Im folgenden Dokument analysieren wir die aktuelle politische Situation in der Schweiz. Dies geschieht aber nicht als akademische Übung. Wir wenden die marxistische Methode auf die heutige Situation an, um daraus die richtigen Einschätzungen und Schlüsse für unsere politische Praxis als revolutionäre Strömung abzuleiten.
Wir publizieren hier das politische Perspektivendokument vom Kongress der Marxistischen Strömung der Funke von Februar 2018.
Die heutige politische Situation bleibt unverständlich, wenn man nicht den Krisenverlauf in der Schweiz und dessen Einfluss auf die Wirtschaft genau anschaut. Deshalb zeigt dieses Papier zunächst, dass die Krise auch in der Schweiz nach wie vor ein bestimmender Faktor ist und bestimmt dann die Krisenpolitik der Schweizer Bourgeoisie seit Ausbruch der Krise. Wir weisen dabei auf wichtige Veränderungen innerhalb des hiesigen Produktionsapparats hin. Der zweite Teil befasst sich mit der Krisenpolitik der Bürgerlichen, den wichtigsten politischen Akteuren, ihrer Rolle im realen Klassenkampf und ihren internen Widersprüchen.
«Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.» (Karl Marx, 18. Brumaire) Es sind diese Umstände, welche wir für den spezifischen Fall der Schweiz einer präzisen Untersuchung unterziehen. Um Umstände bewusst umgestalten zu können, dazu braucht es eine Organisation, eine revolutionäre Partei. Dem Aufbau einer solchen Organisation hat sich unsere Strömung verschrieben. Und diesem Ziel soll auch das Verfassen dieser Perspektive dienen.
Die herrschende Klasse in der Schweiz und international scheint gegenwärtig optimistischer als auch schon. Der Grund: 2016 wuchs das BIP um 1.4% und die Prognosen für 2017 lagen im Herbst laut SECO bei 0.8%. Die ca. 5% Erwerbslosen sind im europäischen Vergleich tief. Das lässt jedoch keineswegs den Schluss zu, dass die Krise überwunden ist. Seit Ausbruch der Krise haben Lohnabhängige keine Verbesserungen ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen erlebt, während die KapitalistInnen ihr Vermögen massiv vergrössern konnten. Gleichzeitig wurde keines der grundsätzlichen Probleme der aktuellen Krise gelöst. Der moderate Optimismus der herrschenden Klasse zeugt nicht von echter Zuversicht, sondern schlussendlich nur von der Kurzsichtigkeit der KapitalistInnen. Solange sie auch nur kurzfristige und spekulative Profite scheffeln können, sind sie zufriedengestellt.
Das momentane Wachstum des Schweizer Kapitalismus bedeutet keineswegs ein Ende der Krise, wie wir in den folgenden Abschnitten zeigen werden. Dies rührt nicht bloss von der permanenten Krisentendenz der kapitalistischen Produktionsweise her. Wir werden anhand einer kurzen Darlegung der weiterhin bestehenden Widersprüche des Kapitalismus auf Weltebene und einiger Kernelemente der Entwicklung des schweizerischen Kapitalismus in der jüngeren Vergangenheit aufzeigen, dass die Krise nicht überwunden ist und dass sie heute weltweit nicht eine zyklische, sondern eine strukturelle und organische Krise ist.
Wir haben immer wieder betont, dass der Krisenausbruch 2007/2008 einen Epochenwandel einläutete. Damit meinen wir nicht einen permanenten Einbruch des Kapitalismus, also quasi eine Endkrise. Denn eine solche gibt es nicht. Konjunkturelle Einbrüche, Instabilität und ungleiches Wachstum, aber auch wieder Phasen kurzzeitiger Aufschwünge über Länder und Sektoren hinweg, sind heute durch die Krise nicht einfach ausgehebelt. Im Gegenteil werden Schwankungen durch die Spekulation sogar noch ausgedehnt und die Krisenhaftigkeit verschärft. Die Entwicklungen des Kapitalismus auf wirtschaftlicher Ebene übersetzt sich in gesellschaftliche und politische Instabilität. Umgekehrt wird jeder Akt bürgerlicher Demokratie (zum Beispiel Wahlen) zum potentiellen Krisenfall mit jeweils an Panik grenzenden Reaktionen der herrschenden Klasse auf den Finanz- und Währungsmärkten.
Der Sattel der herrschenden Klasse wankt zwar jeweils gewaltig, die ArbeiterInnenklasse ist jedoch noch nicht in der Lage, sie davon runter zu stossen. Daher folgen auf Phasen des Einbruchs, Phasen der Stabilisierung und neuerliche Einbrüche. Die Krise entwickelt sich ungleich nach Sektoren und Weltregionen, sie ist aber auch kombiniert durch die Dominanz des Weltmarktes. Die Planlosigkeit, die anarchische Ausdehnung und Schrumpfung der Produktion, geleitet von der Suche nach schnellen Profiten, ist dem Kapitalismus eigen. In der aktuellen Epoche wird dies noch verschärft. Laut OECD sind die „unter den normalen Werten verharrenden Wachstum […] bei Investitionen, Handel, Produktivität und Lohnentwicklung weiterhin zu spüren.“[1] Auf Weltebene wuchs das BIP jährlich nur gerade mal um 2.5% (2008-2016), verglichen mit 3.8% in den Jahren 2000-2007. Noch dramatischer ist der nachhaltig Rückgang des Wachstums in den entwickelten kapitalistischen Ländern: Diese fielen von jährlich 2.6% (2000-2007) auf nun noch 1.25% (2008-2016).[2]
Seit rund zwei Jahren befinden sich die Weltwirtschaft und besonders die entwickelten kapitalistischen Länder, in einer Phase der relativen Stabilisierung. Letztere hat zu einem grossen Teil zwei Quellen. Einerseits wälzte die herrschende Klasse die Krise in den entwickelten kapitalistischen Ländern erfolgreich auf die Lohnabhängigen ab (Arbeitsrechtsreformen, Lohnkürzungen, Ausdehnung der prekären Anstellungsverhältnisse). Andererseits fand eine neuerlich massive Ausdehnung der Verschuldung statt. Laut IWF stieg die private Verschuldung in den entwickelten kapitalistischen Ländern zwischen 2008 und 2016 von 52% auf 63% des BIP,[3] ganz zu schweigen von der weiterhin enormen Staatsverschuldung. Dieser „Geniestreich“ der KapitalistInnen, die Profitbedingungen in der Produktion wiederherstellen und parallel die Absatzmärkte mittels Ausdehnung der Kredite zu stabilisieren, wird sich schliesslich gegen sie wenden.
Letztendlich führen diese Massnahmen der momentanen Stabilisierung zu einer ökonomischen und politischen Destabilisierung. Ein neuerlicher Einbruch ist nicht etwa ein Ding der Zukunft. Die Entwicklung dieser Widersprüche ist ein Prozess, in welchem wir unmittelbar drin sind. Egal, wie er ausgelöst wurde, die Konsequenzen werden auf den Finanzmärkten, in der Produktion und im Handel zu spüren sein. Die Ausdehnung der Kredite wird sich in ihr Gegenteil verkehren und deren Rückzahlung wird gefordert werden. Dies wird ein mächtiger Hebel sein, welcher alle Bereiche der kapitalistischen Produktionsweise betreffen wird.
Ein wichtiger Teil der KapitalistInnen ist sich dieser Fragilität bewusst. Ihre Kurzsichtigkeit ist nicht etwa Ausdruck von Naivität. Sie drückt bloss die fehlende Profitabilität in der realen Produktion und einem aus der Konkurrenz entspringender Hang zum Opportunismus, wenn es um die Möglichkeit kurzfristiger Gewinne geht, aus. Dies zeigt sich besonders krass anhand der Entwicklung der weltweiten Börsenkurse, die weder in einem erkennbaren Verhältnis zur Entwicklung der Gewinne, noch in einem vernünftigen Verhältnis zur eigentlichen Entwicklung der Produktivkräfte stehen. „Lieber den Fasan im Bauch als den Spatz in der Hand“, dürften sie sich wohl sagen.
Die Überproduktionskrise ist weltweit weiterhin das bestimmende Element der Entwicklung des Kapitalismus. Dies drückt sich global in rückläufigem Welthandel, einer historischen tiefen und stagnierenden Investitionsquote und tiefer Wertschöpfung in der Industrieproduktion aus, jedoch besonders in den entwickelten kapitalistischen Ländern. Diese fundamentalen Probleme der aktuellen kapitalistischen Krise sind heute keineswegs überwunden. Durch den bescheidenen zyklischen Aufschwung werden sie zwar gedämpft und wieder unter die Oberfläche gedrückt, mittelfristig werden sie jedoch nur noch weiter verschärft.
[1] OECD, Wirtschaftsausblick, Ausgabe 2017/2
[2] Eigene Berechnungen auf Grundlage von: World Bank, „GDP (constant 2010 US$)“
[3] IMF, „Global Financial Stability Report October 2017: Is Growth at Risk?“
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