Während alle führenden Politiker der imperialistischen Mächte, von Biden und Scholz bis Macron und viele andere, Krokodilstränen über die «übermässige Zahl der zivilen Todesopfer» in Gaza vergossen haben, kollaborierten sie alle in der Praxis mit der israelischen Regierung. Nicht nur mit Militärhilfe, sondern auch bei der wirtschaftlichen und sozialen Erdrosselung des palästinensischen Volkes. Sie haben dazu beigetragen, die materiellen Bedingungen zu schaffen, welche eine praktikable palästinensische Selbstverwaltung verunmöglichen. Sie kollaborieren offen mit Netanjahu, wenn er und seine rechtsextremen zionistischen Freunde versuchen, das wenige, was von den palästinensischen Gebieten noch übrig ist, zu zerstören.

Neben der genozidalen Militärkampagne im Gazastreifen und der ständigen Ausdehnung der Siedlungen im Westjordanland gibt es einen weiteren Krieg an der Wirtschaftsfront. Dazu gehören die Kürzung der Mittel für UN–Hilfsorganisationen, die Zurückhaltung von Steuereinnahmen für die palästinensische Autonomiebehörde und die Weigerung palästinensischer Arbeiter an die Arbeitsplätze, die sie vor dem 7. Oktober in Israel hatten, zurückkehren zu lassen.

Wir sollten uns die tatsächlichen sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen sowohl im Gazastreifen als auch im Westjordanland vor dem Angriff vom 7. Oktober vor Augen halten. Die Nettoarbeitslosigkeit in den palästinensischen Gebieten, im Gazastreifen und im Westjordanland lag bereits bei rund 25 Prozent, wobei die Situation im Gazastreifen noch viel schlimmer war.

Ein Oxfam–Bericht aus dem Jahr 2009 mit dem Titel «Der Gazastreifen: Eine humanitäre Implosion» erklärte, dass bereits vor 15 Jahren: «Die Situation der 1,5 Millionen Palästinenser im Gazastreifen [jetzt sind es 2,3 Millionen] ist heute schlimmer als je zuvor seit Beginn der israelischen Militärbesetzung im Jahr 1967. Die derzeitige Situation im Gazastreifen ist menschengemacht und völlig vermeidbar… Die Lage hat sich exponentiell verschärft, seit Israel als Reaktion auf die Übernahme des Gazastreifens durch die Hamas extreme Beschränkungen für den Waren– und Personenverkehr verhängt hat…» [Meine Hervorhebung]

Die Arbeitslosigkeit im Gazastreifen lag bei 40 Prozent, stieg aber stetig in Richtung 50 Prozent an. Die Armut im Gazastreifen hatte ebenfalls massiv zugenommen, 80 Prozent der Familien waren auf humanitäre Hilfe angewiesen. Diese Tatsache unterstreicht, wie wichtig die Hilfe ist, die von Organisationen wie dem UNRWA (Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten) geleistet wird.

Bis 2009 wurde fast die gesamte produktive Wirtschaft des Gazastreifens durch die von Israel verhängte strenge Wirtschaftsblockade zum Stillstand gebracht. Die Industrie war fast zum Erliegen gekommen, die Landwirtschaft befand sich in einer Krise, und Tausende von Arbeitern, die zuvor zum Arbeiten nach Israel gereist waren, hatten keine Arbeit mehr.

Der Bericht spricht von einer «eingesperrten Bevölkerung». Unter diesen Bedingungen wies der Leiter des UNRWA darauf hin, dass «hungrige, ungesunde, wütende Gemeinschaften keine guten Partner für den Frieden sind». Dies stiess natürlich bei der israelischen Regierung auf taube Ohren.

Die wirtschaftliche Blockade Gazas

Dies waren die Bedingungen, die der Bevölkerung des Gazastreifens lange vor dem Angriff vom 7. Oktober auferlegt wurden. Der offizielle Grund für diese brutale Politik war das Aufkommen der Hamas bei den Wahlen 2006 und ihre Konsolidierung ein Jahr später durch die bewaffnete Übernahme des Gazastreifens.

Die Wahlerfolge der Hamas waren auf die weit verbreitete Desillusionierung der palästinensischen Bevölkerung gegenüber der Fatah und der PLO zurückzuführen, die sowohl das Westjordanland als auch den Gazastreifen regiert hatten. Grund dafür waren die grassierende Korruption und die faktische Zusammenarbeit mit den israelischen Sicherheitskräften, die das palästinensische Volk kontrollieren, anstatt es zu schützen.

So war die Wirtschaftsblockade des Gazastreifens ein Mittel zur Bestrafung der Menschen, die es wagten, eine Kraft zu unterstützen, die den israelischen Behörden nicht gefiel. Die Botschaft war klar: Wenn ihr nicht die palästinensischen Führer, die mit Israel kollaborieren, wählt, dann werden wir euch wirtschaftlich strangulieren und bombardieren, wie wir es für nötig halten.

Das war die Situation in Gaza, wie sie in einem UNRWA–Bericht vom August 2023 beschrieben wurde:

«Die Wirtschaft und ihre Fähigkeit, Arbeitsplätze zu schaffen, sind zerstört worden, was zur Verarmung und Rückentwicklung einer hochqualifizierten und gut ausgebildeten Gesellschaft geführt hat. Der Zugang zu sauberem Wasser und Strom befindet sich nach wie vor auf Krisenniveau und wirkt sich auf nahezu jeden Aspekt des Lebens aus. Sauberes Wasser ist für 95 Prozent der Bevölkerung nicht verfügbar. Elektrizität ist ab Juli 2023 bis zu durchschnittlich 11 Stunden pro Tag verfügbar. Die anhaltende Stromknappheit hat jedoch schwerwiegende Auswirkungen auf die Verfügbarkeit grundlegender Dienstleistungen, insbesondere in den Bereichen Gesundheit, Wasser und Sanitärversorgung, und untergräbt weiterhin die schwache Wirtschaft des Gazastreifens, insbesondere die verarbeitende Industrie und die Landwirtschaft.»

Obwohl die Lage im Westjordanland nicht so gravierend war wie im Gazastreifen, lag die Arbeitslosigkeit im Jahr 2021 bei 25 Prozent und die Jugendarbeitslosigkeit bei 40 Prozent, wobei fast 20 Prozent unterhalb der Armutsgrenze lebten. Das Westjordanland war in hohem Masse von Arbeitsplätzen innerhalb Israels abhängig, da rund 23 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung entweder in Israel oder in israelischen Siedlungen im Westjordanland beschäftigt waren.

Grossmächte kürzen Mittel

Nun wird der Prozess der Strangulierung auf eine neue Stufe gehoben. Die Lieferung von Hilfsgütern nach Gaza wird immer schwieriger, wenn nicht gar unmöglich, da Israel die Zahl der zugelassenen Lastwagen begrenzt und sich weigert, eine sichere Durchfahrt für Hilfslieferungen zu garantieren.

Vor Oktober letzten Jahres erreichten täglich durchschnittlich 500 Lastwagen mit Hilfsgütern den Gazastreifen. Im Januar waren es nur noch 140. Jetzt sind es nur noch etwa 60. In einer Situation, in der alle Reserven erschöpft sind, grassiert der Hunger, vor allem im Norden. Die Menschen trinken schmutziges Wasser und essen alles, was sie in die Finger bekommen, auch Tierfutter.

Israel greift auch die Finanzierung von Hilfsorganisationen an. Netanjahu beruft sich auf die Aussage eines Dossiers des israelischen Geheimdienstes, dass ein Dutzend Personen, welche beim UNRWA im Gazastreifen beschäftigt waren (von insgesamt 13.000), in irgendeiner Form an dem Anschlag vom 7. Oktober beteiligt waren. Die Washington Post ist diesen Behauptungen nachgegangen, konnte sie aber nicht unabhängig überprüfen. UNRWA–Chef Philippe Lazzarini hat darauf hingewiesen, dass Israel keine Beweise für seine Behauptungen vorgelegt hat. Dennoch werden sie von Israel als Mittel eingesetzt, um die imperialistischen Verbündeten unter Druck zu setzen.

Die westlichen Massenmedien haben diese Anschuldigungen als Tatsache dargestellt, und die USA, unmittelbar gefolgt vom Vereinigten Königreich, Deutschland, Frankreich, Italien, Kanada und Australien, haben die Finanzierung der Organisation ausgesetzt, ohne Rücksicht auf die humanitären Folgen, über die sie sich noch kurz zuvor «sehr besorgt» gezeigt hatten. Andere Länder folgten diesem Beispiel, wobei die Länder dieser gesamte Liste zuvor mehr als die Hälfte des UNWRA–Hilfsbudgets ausmachten. Und das, obwohl die aufgelisteten Personen – von denen einige inzwischen verstorben sind – schnell entlassen wurden und eine Untersuchung eingeleitet wurde, als die Anschuldigungen den Vereinten Nationen vorgelegt wurden.

Man vergleiche die Geschwindigkeit, mit der die Imperialisten die dringend benötigte Hilfe für die Palästinenser in Gaza gestrichen haben, mit der fortgesetzten Militärhilfe für Israel, das alles zerstört, was das Leben im Gazastreifen möglich macht. Biden treibt einen Gesetzesentwurf für mehr Hilfe für Israel voran, der Grossteil davon für militärische Zwecke und nur ein kleiner Teil für «humanitäre Hilfe», mit der ausdrücklichen Bedingung, dass nichts an das UNRWA gehen soll. Der Kontrast ist eklatant.

Mehr als zwei Millionen Menschen im Gazastreifen sind derzeit auf das UNRWA angewiesen, «um zu überleben», wie Philippe Lazzarini, der Generalkommissar des Hilfswerks, erklärt hat. Im Januar waren fast 1,4 Millionen Flüchtlinge aus dem Gazastreifen in 155 UNRWA–Einrichtungen untergebracht, und weitere 500’000 erhielten UNRWA–Dienstleistungen. Johann Soufi, Anwalt und ehemaliger Leiter des Rechtsbüros des Hilfswerks in Gaza, erklärte gegenüber Agence–France Presse, dass die Sanktionierung des UNRWA wegen der angeblichen Verantwortung einiger weniger Mitarbeiter einer kollektiven Bestrafung der Bevölkerung des Gazastreifens gleichkommt.

Das UNRWA ist seit geraumer Zeit Drohungen und Mittelkürzungen ausgesetzt. Bereits im August 2018 kündigte der damalige US–Präsident Trump an, dass die USA ihren Beitrag einseitig einstellen würden. Die Wahrheit ist, dass die israelische Regierung seit vielen Jahren versucht, die Finanzierung des UNRWA zu kürzen. Die israelischen Regierungen stellen sich  besonders gegen das Hilfswerk, weil sie behaupten, dessen Definition eines palästinensischen «Flüchtlings», die 5,9 Millionen Menschen umfasst, zu weit gefasst sei und nähre daher die Hoffnung, dass sie eines Tages in ihr Heimatland zurückkehren können.

Das Problem für die Zionisten ist das sich verändernde demografische Verhältnis zwischen Palästinensern und Juden, die im historischen Palästina leben, d. h. in Israel, im Gazastreifen und im Westjordanland. In diesem Gebiet stehen jetzt 7,4 Millionen Palästinenser 7,2 Millionen israelischen Juden gegenüber. Darin enthalten sind die Palästinenser, die Bürger Israels sind – Bürger zweiter Klasse mit weniger Rechten –, die fast zwei Millionen der Gesamtbevölkerung von 9,3 Millionen ausmachen. Die Geburtenrate unter palästinensischen Frauen liegt bei etwa 4 Kindern, verglichen mit 3 Kindern bei israelischen Frauen.

Bei diesem Tempo wird die palästinensische Gesamtbevölkerung, die im historischen Palästina lebt, im Verhältnis zur jüdischen Bevölkerung weiter wachsen. Dies erklärt auch die Position der extremen Zionisten, die die Vertreibung der in Israel lebenden Palästinenser zusammen mit den im Gazastreifen und im Westjordanland lebenden Palästinensern und eine verstärkte Emigration von Juden aus anderen Ländern in Verbindung mit dem Siedlerprogramm fordern.

Nach Bevölkerungsschätzungen des PCBS lebten Mitte 2022 «etwa 14,3 Millionen Palästinenser auf der Welt», davon etwa drei Millionen in Jordanien, von denen drei Viertel die jordanische Staatsbürgerschaft erhalten haben. Etwa eine halbe Million lebt in Syrien, 400’000 im Libanon, offiziell als Flüchtlinge, und etwa 250’000 in Saudi–Arabien. Das bedeutet, dass 11–12 Millionen Palästinenser in der Region leben, der Rest ist nach Europa, Amerika und in andere Teile der Welt ausgewandert.

Die Zionisten wollen, dass eine beträchtliche Anzahl von Flüchtlingen in den Ländern, in denen sie sich derzeit aufhalten, die volle Staatsbürgerschaft erhält, so dass sie im Laufe der Zeit absorbiert und integriert werden könnten, wodurch sie ihren Flüchtlingsstatus verlieren und jede Hoffnung auf eine Rückkehr in ihr historisches Heimatland erlischt. Die Tatsache, dass von jordanischen Bürgern palästinensischer Herkunft erwartet wird, dass sie eine jordanische Identität annehmen, ist ein Hinweis darauf, was die Zionisten in der gesamten Region anstreben, nämlich die faktische Beseitigung einer nationalen palästinensischen Identität. Dies alles erklärt, warum die israelische Regierung das UNRWA als Einrichtung abschaffen will. Einem Artikel im Guardian vom 2. Februar zufolge könnte das UNRWA gezwungen sein, seine Arbeit im Gazastreifen einzustellen, wenn die Finanzierung nicht bald wiederhergestellt wird. Für Israel scheint die Suspendierung der UNRWA–Finanzierung  jedoch nicht ausreichend. Seit Oktober wurden 63 UNRWA–Einrichtungen direkt beschossen und weitere 69 in irgendeiner Form beschädigt. Insgesamt wurden 319 Menschen, die in UNRWA–Einrichtungen untergebracht waren, getötet und über eintausend verletzt. Der israelische Aussenminister Israel Katz gab sich damit nicht zufrieden und kündigte an, das UNRWA nach dem Krieg vollständig aus dem Gaza–Streifen zu entfernen.

Die palästinensische Wirtschaft im Würgegriff Israel

Als die Palästinensische Autonomiebehörde 1994 im Rahmen des Osloer Abkommens eingerichtet wurde, wurde eine als Pariser Protokoll bekannte Vereinbarung getroffen, nach der Israel im Namen der Palästinensischen Autonomiebehörde die Einkommenssteuer einzieht und anschliessend monatliche Überweisungen vornimmt, die vom israelischen Finanzministerium genehmigt werden müssen.

Dabei sollte es sich um eine befristete, fünfjährige Vereinbarung handeln, nach der die Kontrolle an die Palästinensische Behörde übergehen sollte. 30 Jahre später ist dieser Wechsel noch immer nicht vollzogen worden. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Israel hat damit ein wichtiges Druckmittel, um die Palästinensische Autonomiebehörde zu erpressen.

Selbst nachdem der Gazastreifen 2007 unter die Kontrolle der Hamas fiel, behielten viele Beschäftigte des öffentlichen Dienstes dort ihre Arbeitsplätze und erhielten weiterhin ihre Löhne, die mit den vom israelischen Finanzministerium überwiesenen Steuereinnahmen bezahlt wurden. Derzeit ist dieser Posten mit Bezalel Smotrich besetzt, der selbst ein Siedler ist und zu den extremsten, ultraorthodoxen, rechten Zionisten in Netanjahus Regierung gehört.

Im November, kurz nach dem Hamas–Angriff auf den Süden Israels am 7. Oktober, beschloss die Netanjahu–Regierung, Zahlungen – insgesamt 275 Millionen Dollar, einschliesslich der vor dem Angriff gesammelten Beträge – zurückzuhalten, die für öffentliche Bedienstete im Gazastreifen bestimmt waren, mit der Begründung, dass diese Mittel in die Hände der Hamas gelangen könnten. Als Reaktion auf die Kürzung der Mittel weigerte sich die Palästinensische Autonomiebehörde, die gekürzten Gelder entgegenzunehmen, und verlangte die Auszahlung des gesamten geschuldeten Betrags.

Die jüngste Entwicklung besteht darin, dass Israel diese Steuereinnahmen zurückhält und sich weigert, sie an die  Palästinensische Autonomiebehörde (PA) weiterzuleiten. Stattdessen schickte Israel sie nach Norwegen, wo sie nur mit Zustimmung der israelischen Regierung freigegeben werden dürfen. Es war Biden selbst, der Netanjahu bat, die Steuereinnahmen zur «sicheren Verwahrung» nach Norwegen zu schicken, um die Nerven seiner rechtsextremen Minister zu beruhigen, die darauf bestanden, dass kein Geld an die Hamas in den Gazastreifen fliessen dürfe.

Seitdem hat Norwegen zugestimmt, die für das Westjordanland bestimmten Mittel zu überweisen, während es die für den Gazastreifen bestimmten Mittel zurückhält. Der Gazastreifen wird von der Hamas verwaltet, aber die PA hat wichtige Ausgaben finanziert, z. B. die Löhne des Gesundheitspersonals. Jetzt, wo die Mittel gekürzt wurden, wird sich die Lage in Gaza weiter verschlechtern.

Jeden Monat treibt Israel im Namen der Palästinensischen Autonomiebehörde rund 188 Millionen Dollar an Steuereinnahmen ein, das sind 2,25 Milliarden Dollar pro Jahr. Das ist kein unbedeutender Betrag, er macht 64 Prozent der Einnahmen der Autonomiebehörde aus. Derzeit stehen rund 150.000 öffentliche Bedienstete sowohl im Gazastreifen als auch im Westjordanland auf der Lohnliste der PA.

Die Sperrung der Mittel hat dazu geführt, dass viele dieser Beschäftigten nicht ihren vollen Lohn erhalten haben. Bereits im Jahr 2021 waren ihre Löhne aufgrund der ständigen Zahlungsrückstände der israelischen Regierung um 25 Prozent gekürzt worden. Die Palästinensische Autonomiebehörde befindet sich in einer schweren Finanzkrise, in der sich ein enormer Schuldenberg aufgetürmt hat. Die Lage ist so schlimm, dass sich die PA Anfang Februar gezwungen sah, eine 40–prozentige Lohnkürzung für ihre Beschäftigten im öffentlichen Dienst anzukündigen.

Die Zustimmung Norwegens zur Freigabe der für das Westjordanland bestimmten Mittel erklärt sich aus der Angst der Imperialisten, dass die Palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland kurz vor dem Zusammenbruch stehen könnte. Die Situation dort steht bereits am Rande einer grossen sozialen Explosion. Die ständigen Angriffe von Siedlern und der IDF auf die lokale Bevölkerung haben dazu geführt, dass allein im Jahr 2023 fast 500 Palästinenser getötet und mehr als 12’000 verletzt wurden.

Die Situation im Westjordanland wird noch dadurch verschlechtert, dass Israel die Arbeitserlaubnis für rund 130’000 palästinensische Arbeitnehmer, die aus dem Westjordanland nach Israel einreisten, ausgesetzt hat. Insgesamt haben rund 200’000 Palästinenser ihre Arbeit verloren. Mehr als die Hälfte von ihnen waren im israelischen Baugewerbe tätig. Ein palästinensischer Bauarbeiter in Israel konnte über 3’000 Dollar im Monat verdienen, was für jemanden, der im Westjordanland lebt, einen vernünftigen Lebensstandard ermöglichte.

Diese Einkommensquelle ist plötzlich versiegt. Jetzt ist eine grosse Zahl von arbeitslosen Arbeitnehmern im Westjordanland gezwungen, alles was sie können zu verkaufen, um verzweifelt zu versuchen, genug Geld zusammenzukriegen, um ihre Kinder zu ernähren und die Rechnungen zu bezahlen. Vielen wurde wegen unbezahlter Rechnungen das Wasser und der Strom abgestellt.

Die Arbeitslosigkeit in den palästinensischen Gebieten ist seit Oktober von rund 25 Prozent auf 47 Prozent gestiegen, während die palästinensische Wirtschaft insgesamt um 35 Prozent geschrumpft ist. Jetzt lebt ein grosser Teil der Bevölkerung buchstäblich am Existenzminimum und weiss nicht, wie er bis zum Ende des Monats überleben soll.

Die Lage in Gaza steht an einem Kipppunkt

Währenddessen droht der Bevölkerung im Gazastreifen nach Meinung vieler Beobachter vor Ort eine Hungersnot. Viele Familien verbringen täglich Stunden damit, weite Strecken zu Fuss zurückzulegen und Schlange zu stehen, um die wenigen Lebensmittel und das wenige Wasser zu bekommen, das noch verfügbar ist. Ende Dezember ergab ein Bericht des Famine Review Committee (FRC), dass mindestens ein Viertel der Bevölkerung des Gazastreifens (über 500’000 Menschen) von extremer Nahrungsmittelknappheit bedroht ist.

Kinder sind in einer solchen Situation am stärksten gefährdet, vor allem in den ersten Lebensjahren, wenn eine längere Periode der Unterernährung die körperliche und geistige Entwicklung beeinträchtigen kann. Derzeit gibt es in Gaza über 130’000 Kinder unter zwei Jahren. Daher kann diese Situation langfristige Auswirkungen auf die Gesundheit der Kinder haben, selbst nach Ende des Krieges.

Die lokale Landwirtschaft ist durch die ständigen und massiven Bombardierungen völlig zusammengebrochen. Viele Infrastruktureinrichtungen wie Bäckereien und Lebensmittellager wurden entweder zerstört oder mussten geschlossen werden. Den Menschen, die in und um Rafah und anderen Städten kampieren, bleiben nur noch Lebensmittellieferungen von ausserhalb des Gazastreifens.

Action Against Hunger, mit Sitz in Washington D.C., erklärte am 17. Februar: «Wenn die Situation so weitergeht, werden wir eine der grössten Katastrophen erleben, die wir als humanitäre Organisationen je gesehen haben. Die Katastrophe wird von Hunger, Krankheiten und der sehr gefährlichen Umwelt im Gazastreifen verursacht werden, das ist das Resultat von Rückständen der Tausenden Bomben, dem weissen Phosphor, den überall herum schwimmenden Abwässern und dem unsicheren Wasser, das die Menschen trinken, weil sie keine andere Wahl haben.»

Die Lage im Norden des Gazastreifens ist wirklich dramatisch. Dort leben immer noch rund 300’000 Menschen unter entsetzlichen Bedingungen. Einem kürzlich erschienenen BBC–Bericht zufolge sind im abgelegenen Norden des Gazastreifens «Kinder tagelang ohne Nahrung, da Hilfskonvois zunehmend die Einreise verweigert wird.» Die Menschen sind am Verhungern.

Unter diesen Bedingungen eines fast vollständigen Zusammenbruchs der Basisinfrastruktur in Verbindung mit massiv reduzierter Hilfe verbreiten sich Infektionskrankheiten mit alarmierender Geschwindigkeit. Seit Oktober sind mehr als 100’000 Menschen an Durchfallerkrankungen erkrankt, die Hälfte davon sind Kinder unter fünf Jahren, was einer 25–fachen Steigerung gegenüber früher entspricht. Zehntausende von Atemwegsinfektionen werden gemeldet. Hepatitis ist auf dem Vormarsch und zahlreiche andere Erkrankungen nehmen zu. Das Global Nutrition Cluster, ein Partner von Unicef, hat gewarnt, dass eine «Explosion der Kindersterblichkeit» bevorstehe.

Besorgte Imperialisten

Die Imperialisten haben guten Grund zur Sorge, dass die Situation einen Kipppunkt erreichen könnte. Das palästinensische Volk wird weit über das menschlich Erträgliche hinaus gedrängt. Es droht der völlige Zusammenbruch der Palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland, zusätzlich zur absoluten Verwüstung in Gaza.

All dies beginnt die Imperialisten, welche zusehen, wie die Gebiete immer mehr in einem Elend versinken, ernsthaft zu beunruhigen. Sie sehen die Zeitbombe ticken und wissen, dass sie mit einem allgemeinen Volksaufstand konfrontiert werden könnten, wenn die Bevölkerung die Grenze dessen erreicht, was sie ertragen kann.

Sie wissen, dass zur Aufrechterhaltung eines gewissen Masses an Stabilität in der Region den Palästinensern ein Mindestmass an zivilisierter Existenz garantiert werden muss, mit Lebensmitteln, Wohnraum, medizinischer Grundversorgung, Arbeitsplätzen und Einkommen, und zumindest einem Fünkchen Hoffnung, dass sie eines Tages eine Art Heimat haben werden, in der sie ihr Leben wieder aufbauen können. Gegenwärtig werden diese Hoffnungen nicht nur in Gaza, sondern auch im Westjordanland zerstört.

Die jüngste Wendung der Ereignisse, der Rücktritt des palästinensischen Ministerpräsidenten Mohammad Shtayyeh, bestätigt die politische Krise der Palästinensischen Autonomiebehörde. Es scheint, dass sein Rücktritt Teil einer Entwicklung hin zu einer Art technokratischer Regierung ist, die nach Beendigung des Krieges auch den Gazastreifen regieren würde.

Der Begriff «technokratische Regierung» ist ein Euphemismus für eine nicht gewählte Regierung, die das Programm der herrschenden Elite durchsetzen wird. Die von Abbas geführte Palästinensische Autonomiebehörde ist in den Augen der meisten Palästinenser diskreditiert, so dass sie ihnen dieselben Kollaborateure aufzwingen wollen, allerdings hinter einer neuen Maske. Dies ist das Programm des US–Imperialismus für die Palästinenser.

Im Moment hört Netanjahu jedoch nicht zu. Wie wir bereits in einem früheren Artikel erklärt haben, würde ein Angriff auf Rafah die Situation zum Kippen bringen. Es könnte zu einem Szenario führen, bei dem Hunderttausende verzweifelte Menschen, die derzeit in Zelten kampieren – möglicherweise bis zu einer Million – über die Grenze nach Ägypten strömen.

Es scheint sich nun zu bestätigen, dass die ägyptischen Behörden Vorsichtsmassnahmen für den Fall ergreifen, dass ein solches Szenario eintritt. Jüngste Satellitenbilder deuten darauf hin, dass entlang der ägyptischen Grenze zum Gazastreifen Arbeiten stattfinden, um eine ummauerte Pufferzone zu schaffen, die palästinensische Flüchtlinge aufnehmen soll, falls Israel mit seiner Bodenoffensive in Rafah fortfährt.

Dies alles beschäftigt die Imperialisten. Sie üben nun Druck auf Netanjahu aus, damit er einen vorübergehenden Waffenstillstand akzeptiert und die Hindernisse für die Hilfe aufhebt. Die USA haben eine eigene Resolution des UN–Sicherheitsrats verfasst, in der eine «vorübergehende Waffenruhe» in Gaza gefordert wird, allerdings mit dem Zusatz «sobald wie möglich».

Wir sollten uns hier keine Illusionen machen. Der US–Imperialismus setzt sich nicht für ein Ende der Bombardierung des Gazastreifens ein. Er strebt lediglich einen vorübergehenden Stopp oder eine «Pause», wie er es nennt, an, um einen Teil des Drucks abzubauen, der sich aufbaut. Dies wird durch die Tatsache bestätigt, dass sie vor kurzem im UN–Sicherheitsrat ein Veto gegen eine Resolution Algeriens eingelegt haben, in der ein sofortiger Waffenstillstand gefordert wurde.

Dennoch kommentierte die Financial Times: «Die Nutzung einer Resolution des UN–Sicherheitsrats [durch die USA], um eine Änderung der israelischen Strategie zu fordern, stellt für die USA einen grossen diplomatischen Meilenstein dar…» Unter diesem Druck hat die israelische Regierung ihre geplante Bodenoffensive im Gazastreifen auf den 10. März verschoben. Sie hat eine Frist gesetzt, bis zu der die Hamas alle Geiseln freilassen muss, um die Offensive zu starten.

Dieses Datum ist kein Zufall. Der Ramadan beginnt dieses Jahr am Abend des Sonntags, den 10. März! Die Bodenoffensive auf Rafah an diesem Tag zu starten, hätte eine enorme symbolische Bedeutung für Muslime in der ganzen Welt und insbesondere im Nahen Osten. Netanjahu würde damit Millionen von Muslimen in der Region ins Gesicht spucken.

Vor dem Hintergrund der wachsenden sozialen Unruhen in vielen Ländern des Nahen Ostens könnte dies zu Massenunruhen und Bewegungen von revolutionärem Ausmass führen. Deshalb versuchen die Imperialisten, wobei die USA eine wichtige Rolle spielen, sich vom Abgrund abzuwenden.

Sie wollen in Israel dringend jemanden im Sattel haben, dem sie vertrauen können. Gantz, Israels Verteidigungsminister, wird laut New York Times als «der Erwachsene im Raum der israelischen Regierung» und «der Mann, der Netanjahu und seine katastrophale Regierung am ehesten ablösen wird», gepriesen.

Gantz ist jedoch kein Heiliger. Als Generalstabschef unter Netanjahu wurde er bekannt für sein rücksichtsloses Vorgehen bei der «Operation Protective Edge», der Bombardierung des Gazastreifens im Jahr 2014, bei der mehr als 2’300 Palästinenser getötet und mehr als 10’000 verstümmelt wurden.

Kürzlich hat er erklärt, dass: «Die Welt muss es wissen, und die Hamas–Führer müssen es wissen, wenn unsere Geiseln bis zum Ramadan nicht zu Hause sind, werden die Kämpfe überall weitergehen, auch in der Gegend von Rafah.» Das ist eine Bestätigung der Tatsache, dass, wenn es um die Vernichtung der Palästinenser geht, alle zionistischen Spitzenpolitiker denselben Standpunkt vertreten.

Was rational ist, ist nicht immer möglich

Der Krieg im Gazastreifen hat die Region bereits destabilisiert und droht sie weiter zu destabilisieren. Wenn die Offensive in Rafah weitergeht, wird sie die umliegenden arabischen Regime, denen ein revolutionärer Umsturz droht, dramatisch schwächen. Das würde Schockwellen in die ganze Welt senden.

Unter dem Gesichtspunkt der objektiven Bedürfnisse der Kapitalistenklasse weltweit in dieser Situation ist es logisch, dass die Imperialisten versuchen, Netanjahu zurückzuziehen. Biden hat nun zuversichtlich verkündet, dass bis Montag, den 4. März, ein Waffenstillstand – einigen Berichten zufolge von bis zu sechs Wochen – in Kraft treten wird.

Bidens Optimismus wird jedoch weder in Israel noch in Gaza geteilt. Die Gründe dafür liegen in der Tatsache, dass ein Waffenstillstand als eine vorübergehende Massnahme dargestellt wird und nicht als ein Ende des Krieges, eine der Hauptforderungen der Hamas.

Basem Naim, der Leiter der politischen Abteilung der Hamas im Gazastreifen, erklärte, Bidens Ankündigungen seien «verfrüht» und entsprächen «nicht der Realität vor Ort», während israelische Beamte erklärten, die Hamas stelle weiterhin «übertriebene Forderungen».

Das diskutierte Abkommen würde auch nur die Freilassung von 40 Geiseln, die von der Hamas festgehalten werden, im Austausch gegen 400 palästinensische Gefangene ermöglichen. Damit bliebe der Grossteil der verbleibenden Geiseln weiterhin in den Händen der Hamas. Das heisst, selbst wenn ein solches Abkommen zustande käme, würde es der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen nur eine vorübergehende Atempause verschaffen und nicht zu einem Ende des Krieges führen.

Netanjahu beharrt weiterhin darauf, dass er auch im Falle eines Waffenstillstandsabkommens seine Vorbereitungen für einen Angriff auf Rafah fortsetzen wird, was nichts Gutes verheisst. Das Problem dabei ist, dass die umfassenderen, allgemeineren Interessen des globalen Kapitalismus nicht mit den Interessen Netanjahus und seiner rechtsextremen Kabinettskollegen übereinstimmen, und auch nicht mit denen eines bedeutenden Teils der zionistischen herrschenden Klasse.

Selbst der so genannte «gemässigte» Gantz unterscheidet sich von Netanjahu nicht in der Frage, ob die Palästinenser weiterhin aus dem wenigen Rest ihres historischen Heimatlandes verdrängt werden sollen, sondern in welchem Tempo und wie. Vielleicht ist er auch etwas empfindlicher gegenüber dem Druck der imperialistischen Unterstützer Israels.

Für Netanjahu hingegen würde ein Rückzug und ein Verbleiben der Hamas im Gazastreifen das Ende seiner politischen Karriere bedeuten. Die Rechtsextremen würden den Zusammenbruch seiner Regierung provozieren. Es würden Wahlen folgen, aus denen Netanjahu als Verlierer hervorgehen würde, und seine juristischen Probleme im eigenen Land könnten zu ernsten persönlichen Konsequenzen führen.

Dies erklärt seine jüngsten Manöver, die darauf abzielen, die laufenden Versuche, mit der Hamas ein Abkommen über die Geiseln zu schliessen, zu vereiteln. Er stellt Bedingungen, die die Hamas unmöglich akzeptieren kann. Nach Angaben der Times of Israel vom 25. Februar warfen Beamte Netanjahu vor, er versuche, das sich anbahnende Geiselabkommen zu torpedieren, um die rechtsextremen Elemente in seiner Regierung zu beschwichtigen.

Netanjahu könnte irgendwann über das Ziel hinausschießen und einen größeren Konflikt mit Ägypten und anderen arabischen Regimen heraufbeschwören. Die zunehmenden bewaffneten Scharmützel an der libanesischen Grenze könnten auch dort zu einer Eskalation führen. All dies würde den von den Imperialisten so sehr angestrebten Normalisierungsprozess zwischen Israel und Saudi–Arabien sowie anderen Ländern der Region erheblich stören. Wichtige Teile des israelischen Establishments könnten daher an einem bestimmten Punkt zu dem Schluss kommen, dass Netanjahu gehen muss. So weit sind wir noch nicht, aber seine Tage sind eindeutig gezählt.

Das Problem, mit dem die Imperialisten konfrontiert sind, ist, dass das, was abstrakt rational ist, unter den konkreten Bedingungen vor Ort nicht immer möglich ist. Wir leben in einer Epoche einer noch nie dagewesenen Krise des globalen kapitalistischen Systems. Der Handlungsspielraum der einzelnen Mächte, ob gross oder klein, ist stark eingeschränkt. Dies kann dazu führen, dass einzelne Personen in Schlüsselpositionen vorübergehend eine unverhältnismässig grosse Macht haben. Gleichzeitig verschärfen sich die Konflikte um Märkte und Einflusssphären, die Situationen werden bis an die Grenze des Erträglichen getrieben und kippen in den offenen Krieg, wo die Widersprüche am schärfsten sind.

Darunter leiden die arbeitenden Menschen aller Länder. Die Palästinenser sind in diesem Widerspruch gefangen, aber ihr schweres Leiden bringt auch die Sackgasse des gesamten Systems zum Vorschein. Und es erklärt, warum die überwältigende Mehrheit der Arbeiter und Jugendlichen überall instinktiv mit ihnen mitfühlt und sich auf ihre Seite stellt. Der Klassenkampf zieht sich wie eine dicke rote Linie durch die palästinensische Frage und betrifft alle Länder.

Es ist die Aufgabe der Arbeiter aller Länder, diesen Widerspruch zu lösen, und zwar nicht, indem sie an diesem oder jenem Detail herumbasteln, sondern indem sie das gesamte kapitalistische System umstürzen.