Die Notwendigkeit der Theorie

Die Occupy Bewegung steht noch ganz am Anfang, wo es natürlicherweise eine Menge Verwirrungen, Schwankungen und Unentschlossenheit gibt. Die Bewegung vereinigt viele widersprüchliche Elemente, die sich in zwei grosse Lager aufteilen: Die, die den Kapitalismus abschaffen wollen und jene, die ihn reformieren wollen, in dem sie beispielsweise am Steuersystem und an der Bankenregulierung herumbasteln.

Im Gegensatz dazu sind die Herrschenden der Gesellschaft unerbittlich und zielstrebig. Sie können auf jahrzehntelange Erfahrung im Umgang mit Protesten und Oppositionsbewegungen zurückgreifen. Sie kombinieren Medienmanipulationen und zunehmende militarisierte Polizeigewalt mit subtileren Methoden wie Erpressung, Bestechung, Täuschung und den Einsatz von Polizeiprovokateuren. Der Staat verfügt über ein Heer von hartgesottenen Bürokraten, zynischen Politikern, gewieften Anwälten, verlogene Journalisten, gelehrten Akademikern und gerissenen Priestern, die alle gemeinsam den Status quo verteidigen, an dem sie alle ein persönliches Interesse haben.

Marxisten unterstützen die Occupy-Bewegung und die kollektive Suche nach Lösungen für die Krise des Kapitalismus voll und ganz. Sie stellt ein neues gesellschaftliches Erwachen dar und spiegelt sich in einem erneuerten Interesse an Ideen und Theorie wider. Dennoch gibt es einige, die den Begriff der Theorie selbst verhöhnen. „Wir brauchen keine überholten politischen Theorien!“, sagen sie. „Wir befinden uns mitten in einem grossartigen Abenteuer und entwickeln unsere Ideen spontan im Vorwärtsgehen.“ Hinter diesen Aussagen, so sehr sie auch oberflächlich gesehen anziehend erscheinen mögen, verbirgt sich jedoch ein tiefer Widerspruch.

Im echten Leben würde keine ernsthafte Person eine solche Haltung in seinem Alltag einnehmen. Man muss sich nur vorstellen, man geht mit Zahnschmerzen zum Zahnarzt, und er sagt: „Eigentlich habe ich noch nie Zahnmedizin studiert, aber öffnen Sie trotzdem den Mund und ich versuch mein Glück.“ Man würde sofort aus der Tür rennen! Oder ein Klempner klopft an die Tür und sagt: „Ich weiss nichts über Klempnerei, aber lassen Sie mich doch mal an Ihren Abflussrohren herum werken.“ So jemand würde in hohem Bogen aus dem Haus fliegen.

Aber während wir zu Recht auf einer ernsthaften und professionellen Einstellung zu all den Dingen in unserem täglichen Leben bestehen, werden wir aufgefordert im revolutionären Kampf gegen den Kapitalismus all unsere Kritikfähigkeit aufzugeben. Plötzlich soll gelten: „Everything goes“ (Alles ist möglich.). Eine Idee ist genauso gut wie die nächste, egal wie irrelevant oder verrückt sie ist. Mit diesem Zugang reduziert sich die Bewegung auf andauernder Treffen und Versammlungen, an denen nur ein hartgesottener Kern an Aktivisten teilnimmt, und die so zu einem blossen Debattierclub degradiert werden.

Weit davon entfernt eine Bedrohung für das kapitalistische System darzustellen, bedeutet es für jenes nichts weiter als eine kleine Unannehmlichkeit. Es wurde in der Occupy-Bewegung sogar ernsthaft vorgeschlagen, dass die Banker und Kapitalisten, anstatt die Proteste gewaltsam auseinanderzujagen, mitdiskutieren und an den Debatten teilnehmen sollten. Dies würde einen freundlichen Dialog mit den jungen Andersdenkern ermöglichen und diesen zeigen, dass die Ausbeuter letztendlich keine schlechten Menschen sind.

Auf diese Weise würde die Protestbewegung ihren revolutionären Charakter verlieren. Sie würde allmählich in das System integriert werden, welches sie eigentlich bekämpfen will. Die kämpferischsten Wortführer der Proteste können beiseite genommen und mit Schmeicheleien, Jobs und Karrieren geködert werden: „Was für ein intelligenter junger Mensch sie sind! Sie sind kurz davor mich zu überzeugen! Wissen Sie, wir brauchen fähige junge Menschen wie Sie in der Geschäftswelt…“ Dieses Vorgehen haben wir schon oft erlebt.

Um in diesen Fallstrick zu vermeiden und den Erfolg der Bewegung zu garantieren, sind ein Verständnis von Theorie und den Lehren der Vergangenheit wesentliche Voraussetzungen. Während die meisten Menschen einen schmerzhaften Prozess des Herumprobieren und Fehler Machens durchmachen müssen, stützen sich Marxisten auf die Erfahrungen der Vergangenheit. Wir können sagen, was funktioniert hat und was nicht, und dieses Wissen auf die gegenwärtige Situation anwenden. Wir werden immer noch einige Fehler machen, denn es gibt kein „revolutionäres Kochbuch“ mit allen Antworten, in dem man einfach nachschlagen könnte. Es gibt aber ebenfalls keine Notwendigkeit, das Rad neu zu erfinden; denn es wurde schon vor sehr langer Zeit erfunden!

Reformismus oder Revolution?

In der Vergangenheit waren die Reformisten tatsächlich in der Lage, ein paar zusätzliche Krümel für die Arbeiter am Verhandlungstisch der Kapitalisten herauszuschlagen. Doch die Krise des Kapitalismus hat notwendigerweise auch die Krise des Reformismus zur Folge. Um Vorwärts gehen zu können, braucht es einen ernsthaften Kampf gegen den Reformismus, einen Kampf für die Erneuerung der Massenorganisationen der Arbeiterklasse, angefangen bei den Gewerkschaften. Sie müssen in Kampforganisationen der Arbeiterklasse umgewandelt werden.

Marxisten sind nicht gegen Reformen. Im Gegenteil, wir werden hartnäckig für jede Reform kämpfen, die dazu beitragen kann, das Leben für die Mehrheit zu verbessern. Aber unter den gegenwärtigen Bedingungen können keine bedeutsamen Reformen, ohne einen Kampf, der bis zum Äussersten geht, errungen werden. Die Zeiten, in denen die Arbeiterinnen und Arbeiter nur einen Streik androhen mussten, um bedeutsame Lohnerhöhungen zu bekommen, sind längst vorbei. Die Bosse sagen, sie können es sich nicht einmal leisten das derzeitige Lohnniveau zu erhalten, geschweige denn zusätzliche Zugeständnisse zu machen. Die Zeiten in denen die rechten Gewerkschaftsführer zu einer bequemen Vereinbarung mit den Arbeitgebern und dem Staat gelangen konnten, sind nun Geschichte.

Wenn man die gegenwärtige Politik der Arbeiterführer kritisiert, ist es notwendig eine andere, eine bessere Politik vorzuschlagen. Aber die Occupy-Protestbewegung hat noch keine klare Alternative zum Reformismus gefunden. Es bleibt bei Forderungen, wie die Spekulation durch eine Finanztransaktionssteuer zu begrenzen.

Aber das ist keine Alternative zum kapitalistischen System, sondern nur ein halbherziger Versuch ein System zu reformieren, das nicht reformiert werden kann. Es ist nur eine andere Spielart des Reformismus. Es ist bezeichnend, dass selbst einige kapitalistische Politiker solche Steuern gutheissen. Das ist ausreichend, um zu zeigen, dass eine solche Massnahme den Kapitalismus nicht bedroht. Sie wird auf lange Sicht genau gar nichts lösen.

Diejenigen, die davon träumen, die Krise durch Reformen zu lösen, leben in der Vergangenheit, in einer Phase des Kapitalismus, die schon lange vorbei ist. Nicht die Marxisten, sondern sie sind die Utopisten! Was es braucht, ist eine entschlossene Kampfbereitschaft und eine Wiederbelebung des Klassenkampfes. Aber in letzter Instanz ist dies nicht genug. Unter den Bedingungen der kapitalistischen Krise können selbst einmal erkämpfte Errungenschaften der Arbeiterklasse nicht von Dauer sein.

Was die Bosse mit der linken Hand geben, werden sie mit der rechten zurücknehmen und umgekehrt. Lohnerhöhungen werden durch Inflation oder Steuererhöhungen aufgehoben. Fabriken werden geschlossen und die Arbeitslosigkeit steigt. Der einzige Weg, um sicherzustellen, dass Reformen nicht rückgängig gemacht werden, ist der Kampf für eine radikale Veränderung der Gesellschaft. Darüber hinaus kann selbst der Kampf für Reformen nur noch dann erfolgreich sein, wenn er im grösstmöglichen und revolutionären Rahmen geführt wird. Die ganze Geschichte zeigt, dass die herrschende Klasse nur dann ernsthafte Zugeständnisse machen wird, wenn sie befürchtet, dass sie alles verlieren könnte.

Es reicht nicht aus, einfach „Nein“ zu sagen. Wir müssen eine Alternative anbieten. So wie wir eine brauchbare Alternative zum Kapitalismus benötigen, brauchen wir auch eine Alternative zur alten reformistischen Führung. Wir müssen gegen die rechte bürokratische Führung der Arbeiterorganisationen kämpfen. Wir müssen für einen Bruch mit den Demokraten und den Republikanern und für die Gründung einer Arbeiterpartei kämpfen, die sich auf die Gewerkschaften stützt. Aber um dies zu erreichen, ist es absolut notwendig, revolutionäre Kader, welche die richtigen Schlüsse aus der gesamten Geschichte des Klassenkampfes auf nationaler und internationaler Ebene gezogen haben, zu organisieren, zu bilden und in der Praxis zu schulen.

Die Theorie und Praxis des Anarchismus

Es stimmt, dass es in den Reihen der Anarchisten viele mutige Kämpfer gegeben hat. Dies galt insbesondere für das Spanien der 1920er und 1930er Jahre. Aber als Ganzes betrachtet zeigt die Geschichte des Anarchismus der letzten hundert Jahre deutlich, dass es sich bei dieser politischen Strömung um eine Sackgasse handelt. Die auffälligste Tatsache ist der schroffe Gegensatz zwischen Theorie und Praxis. Trotzki sagte, dass die Theorien des Anarchismus wie ein Regenschirm voller Löcher sind: Gerade dann, wenn es regnet, sind sie nutzlos. Das hat sich immer und immer wieder bestätigt.

Als Theorie ist der Anarchismus konfus und oberflächlich. Bakunin hat seine Ideen von den utopischen Sozialisten des 19. Jahrhunderts (insbesondere von Proudhon) zusammengeschustert und plagiiert. Ausserdem wurden sie sofort von Bakunins eigener Praxis widerlegt. Während er in seiner eigenen Organisation „Freiheit“ predigte, führte er einen rücksichtslosen Zentralismus ein. Bakunin (oder „Bürger B“, wie er genannt wurde) übte eine tyrannische, persönliche Diktatur über seine Organisation aus. In seiner Polemik gegen Marx zögerte er nicht, die niederträchtigsten Methoden, einschliesslich des Gifts des Antisemitismus, zu verwenden. Das wird im Artikel Marx vs. Bakunin genauer untersucht, der in diesem Sammelband vorliegt.

Von weit grösserem Interesse sind die Schriften von Peter Kropotkin, einem Mann der Ideen, der eine der besten historischen Werke über die Französische Revolution schrieb, welches auch von Trotzki sehr geschätzt wurde. Dennoch muss darauf hingewiesen werden, dass Kropotkin 1914 all seine anarchistischen Ideale über Bord warf, als er die Alliierten im Ersten Weltkrieg unterstützte. Damit war er nicht der Einzige.

In Frankreich gelang es den Anarchosyndikalisten vor dem Ersten Weltkrieg, den wichtigsten Gewerkschaftsbund zu dominieren. Ihre wichtigste Parole war der Generalstreik, den sie als Allheilmittel ansahen. Das war ein Fehler. Obwohl der Generalstreik eine der mächtigsten Waffen im Arsenal des Klassenkampfes ist, kann er die zentrale Frage nicht lösen: die Frage der Staatsmacht.

Ein unbefristeter Generalstreik – im Gegensatz zu einem eintägigen Generalstreik, der eigentlich nur eine Demonstration ist – wirft die Frage der Macht auf. Er stellt die Frage: Wer leitet die Gesellschaft; ihr oder wir? Daher muss er logischerweise zur Übernahme der Macht durch die Arbeiterklasse führen oder aber in einer Niederlage enden. Übernimmt die Arbeiterklasse die Staatsmacht nicht, so bleibt der gesamte Zwangsapparat von Armee, Polizei, Gerichten, Gesetzen usw. in den Händen der Kapitalisten. Das ist etwas, was die Anarchisten niemals verstehen können, denn für die meisten von ihnen ist die Frage der Staatsmacht entweder irrelevant oder der Staat kann einfach von einem Tag auf den anderen abgeschafft werden. Die Anarchisten mögen den Staat zwar „ignorieren“, aber der Staat ignoriert die Arbeiterklasse nicht, welche darum kämpft, die Gesellschaft zu verändern!

Leider kann die Frage nach dem Staat, die Frage: „Wer regiert die Gesellschaft?“ nicht so einfach aus dem Weg geschafft werden. Sie kann nicht ignoriert werden. Stellen wir uns die Frage konkret. Wenn die Arbeiter streiken, was wird passieren? Alle Industrie-, Transport und Kommunikationsmittel werden zum Stillstand kommen. Die Fabriken, Geschäfte und Banken werden geschlossen sein. Und was dann? Die Kapitalisten können es sich leisten zu warten. Sie laufen nicht in Gefahr zu verhungern. Aber die Arbeiterklasse kann nicht unbegrenzt warten. Sie kann durch diese Lage zurück zur Arbeit gedrängt werden. Und wenn es nicht ausreicht, die Bewegung auszusitzen, verfügt der Staat über zahlreiche Repressionsmitteln, die die Bewegung vollständig erledigen können. Dies ist mehr als einmal in der Geschichte passiert. Und aktuell passiert es mit der Occupy-Bewegung.

Mit anderen Worten, wenn sie nicht mit der Perspektive der Machtübernahme durch die Arbeiterklasse verbunden ist, ist die Frage des Generalstreiks nur leere Demagogie.

Wie hat sich also diese Position der Anarchosyndikalisten in Frankreich in der Praxis aufgelöst? Als Frankreich 1914 in den Ersten Weltkrieg eintrat, verwarfen die anarchosyndikalistischen Gewerkschaftsführer sofort ihre grossen Reden über einen Generalstreik und traten in eine Koalitionsregierung mit den bürgerlichen Parteien ein, die „heilige Union“ (L’Union Sacrée). Sie spielten während des Krieges eine streikbrechende Rolle.

Dieser Gegensatz zwischen Theorie und Praxis, zwischen Worten und Taten, war für die Geschichte des Anarchismus von Anfang an absolut charakteristisch. Das hatte seine tragischsten Folgen in Spanien in der revolutionären Periode der 1930er Jahre.

Der Anarchismus in Spanien

In Spanien hatten die Anarchisten das Beste, was die Arbeiterklasse zu bieten hatte, hinter sich versammelt. In ihren Reihen gab es viele mutige und engagierte Klassenkämpfer. Die anarchistische Gewerkschaft CNT war mit Abstand die grösste Arbeiterorganisation Spaniens. Die anarchistischen Arbeiter waren bekannt für ihren Mut und ihren Kampfeswillen. Doch die Spanische Revolution von 1931-37 demonstrierte den völligen Bankrott des Anarchismus als ein Leitfaden für die Arbeiterklasse auf dem Weg zu einer sozialistischen Gesellschaft.

Als Franco im Sommer 1936 einen faschistischen Militäraufstand gegen die Republik ausrief, stürmten die zumeist in der CNT organisierten Arbeiter Barcelonas die Kasernen der Armee. Sie waren nur mit improvisierten Waffen ausgerüstet und besiegten trotzdem die Faschisten, bevor sie Francos Putsch unterstützen konnten. Mit dieser mutigen Aktion verhinderten sie 1936 den Sieg der Faschisten.

Infolge dieses Aufstands hatten die anarchistischen Arbeiter die vollständige Kontrolle über Barcelona. Sie wählten Arbeiterkomitees, um die Fabriken unter Arbeiterkontrolle weiter zu führen und gründeten Arbeitermilizen. Der alte bürgerliche Staat hatte aufgehört zu existieren. Die einzige Macht war die Arbeiterklasse.

Es wäre sehr einfach gewesen, Delegierte aus den Fabriken und Milizen in ein Zentralkomitee zu wählen, das in Katalonien eine Arbeiterregierung hätte ausrufen können. Dieses hätte an die Arbeiter und Bauern im übrigen Spanien appellieren können, ihrem Beispiel zu folgen.

Aber die Führung der Anarchisten tat dies nicht; Sie weigerte sich, in Katalonien eine Arbeiterregierung zu bilden, als sie die Gelegenheit dazu hatte. Selbst als Lluis Companys, der Präsident der alten bürgerlichen Regierung Kataloniens (die Generalitat), sie zur Machtübernahme einlud, weigerte sie sich, dies zu tun. Das war fatal für den Ausgang der Revolution. Allmählich bauten die Bourgeoisie und die Stalinisten die alte Staatsmacht in Katalonien wieder auf und benutzten sie, um die Volksmilizen zu entwaffnen und die Elemente der Arbeitermacht zu zerschlagen.

Was haben die anarchistischen Führer stattdessen gemacht? Die gleichen Damen und Herren, die sich früher geweigert hatten, eine Arbeiterregierung zu bilden, schlossen sich später einer bürgerlichen Regierung an und halfen dabei, die Revolution gegen die Wand zu fahren. Es gab sogar anarchistische Minister in der nationalen bürgerlichen Regierung in Valencia und der Regionalregierung in Katalonien! In der Praxis diente die CNT-Führung als „rotes Feigenblatt“ für die bürgerliche Regierung. Dieses Verhalten trug massgeblich zur Niederlage der spanischen Revolution bei, und das Volk Spaniens bezahlte den Preis mit vier Jahrzehnten faschistischer Barbarei.

Das war nicht das Ergebnis von „ein paar schwarzen Schafen“ in der anarchistischen Führung, sondern entspringt aus den Schwächen der anarchistischen Theorie und Praxis. Ohne einen festen theoretischen Kompass, der einen durch die Sturm-und-Drang-Periode einer Revolution führt, werden Entscheidungen einfach improvisiert. So setzen sich „Pragmatismus“ und leere Demagogie durch. Und ohne eine starke, zentralisierte, demokratische und rechenschaftspflichtige Organisationsstruktur stehen die Führer nicht unter der Kontrolle der Mitgliedschaft und die Organisation kann nicht als ein einheitliches und dadurch mächtiges Ganzes agieren.

Es gab eine bemerkenswerte Ausnahme von der Regel, und das war José Buenaventura Durruti, ein aussergewöhnlicher revolutionärer Kämpfer, der eine Armee auf der Grundlage der Arbeitermiliz organisierte. Diese Armee zog in Aragon ein und führte einen revolutionären Krieg gegen die Faschisten, in dem jedes Dorf in eine Bastion der Revolution verwandelt wurde. Aber Durruti konnte diese Dinge nur erreichen, weil er von den alten anarchistischen Dogmen abkam und sich in der Praxis dem revolutionären Marxismus näherte – dem Bolschewismus.

Obwohl die anarchistischen Arbeiter zweifelsohne aufrichtig und mutig waren, war die Bilanz der gesamten historischen Erfahrung des Anarchismus völlig katastrophal. Deshalb ist heutzutage der Anarchismus als Strömung in der Arbeiterbewegung fast vollständig zerstört und überlebt nur am Rande der Studenten- und Protestbewegungen, wo er, wie wir noch sehen werden, nur noch dazu dient Verwirrung zu stiften.

Der Anarchismus in der antikapitalistischen Bewegung

Welche Wirkung haben Theorie und Praxis des Anarchismus in der antikapitalistischen Bewegung?

Das erste Problem war die Weigerung, Mehrheitsentscheidungen zu akzeptieren. Es ist ein zentraler Bestandteil der Demokratie, dass die Minderheit die Entscheidung der Mehrheit akzeptieren muss. Die Anarchisten lehnen dies ab, da es die „Tyrannei“ der Mehrheit über die Minderheit bedeuteten würde.

Da es in einem Kollektiv leider nur selten möglich ist, alle zu 100% zufrieden zu stellen, ist es unvermeidlich, dass jemand unzufrieden ist, wenn sein spezieller Standpunkt von der Mehrheit nicht akzeptiert wird. Aber was ist die Alternative? Die einzige Alternative ist die Politik des Konsenses. Was bedeutet das in der Praxis?

Sagen wir, hundert Menschen sind in einer Versammlung, 99 sind für einen Vorschlag und nur eine Person stimmt dagegen, was soll dann passieren? Nach dem demokratischen Prinzip gilt die Ansicht der 99 als Beschluss und die eine Person, die dagegen stimmt, akzeptiert die Entscheidung. Er oder sie ist nicht verpflichtet, seine Ansichten zu ändern, und kann sich das Recht vorbehalten, weiter zu argumentieren und versuchen die Mehrheit zu überzeugen. Doch bis dahin steht der Beschluss der Mehrheit.

Abgesehen davon, dass es von einem demokratischen Standpunkt aus sehr sinnvoll ist, hat dieses Verfahren den Vorteil, dass wir vom Reden zum Handeln übergehen können. Das ist im Grunde eine Klassenfrage. Arbeiter und Gewerkschafter kennen dieses demokratische Verfahren gut. Das zeigt sich in jedem Streik. Die Disziplin, die dem Arbeiter durch das kapitalistische System auferlegt wird – durch Arbeitsteilung und Reglementierung der Produktion -, ist die gleiche Disziplin, die die Arbeiter gegen die Chefs richten, indem sie sich in Gewerkschaften und Arbeiterparteien organisieren.

Im Gegensatz zu den Arbeitern sind die Mittelschichten an individualistische Methoden gewöhnt und haben eine individualistische Mentalität. Eine Versammlung von Studenten kann stunden-, tage- und wochenlang diskutieren, ohne jemals zu einem Ergebnis zu kommen. Sie haben viel Zeit und sind an dieses Vorgehen gewöhnt. Aber eine Massenversammlung in einer Fabrik ist etwas ganz anderes. Vor einem Streik diskutieren, debattieren und hören die Arbeiter unterschiedliche Meinungen. Aber am Ende des Tages muss die Sache entschieden werden. Sie wird zur Abstimmung gestellt und die Mehrheit entscheidet.

Dies ist für jeden Arbeiter klar und offensichtlich. Und in neun von zehn Fällen wird die Minderheit die Entscheidung der Mehrheit freiwillig akzeptieren. Sobald die Streikentscheidung getroffen ist, werden sich alle Arbeiter daranhalten. In den meisten Fällen werden sogar diejenigen, die gegen einen Streik argumentierten, ihn unterstützen und eine aktive Rolle am Streikposten spielen.

Was ist mit der anarchistischen Konsensmethode? Sie bedeutet in der Praxis, dass keine Entscheidung getroffen werden kann, wenn auch nur eine Person nicht zustimmt. Das ist die Tyrannei der Minderheit über die Mehrheit, weil der Mehrheit ihre Rechte verweigert werden. Sie kann sogar die Diktatur eines einzelnen Individuums bedeuten – das ist nach jeder Definition das genaue Gegenteil der Demokratie. Das hat absolut nichts mit Demokratie oder Sozialismus zu tun, sondern ist Ausdruck von kleinbürgerlichem Individualismus und Egoismus.

Um zu sehen, wohin diese Methode führen kann, schauen wir uns nochmals das Beispiel eines Streiks an. Es gibt immer ein paar Leute, die versuchen werden zur Arbeit zu gehen, obwohl ihre Arbeitskollegen entschieden haben, die Arbeit einzustellen. Sie beklagen, dass ihre individuellen Rechte durch die „Tyrannei der Mehrheit“ verletzt wurden. Dies ist die gleiche Logik, die hinter der „right to work“-Gesetzgebung steht (ein Anti-Gewerkschaftsgesetz in den USA, Anm.). Diese Leute werden von der bürgerlichen Presse als „Kämpfer für Freiheit und die Rechte des Einzelnen“ dargestellt. Die Arbeiter haben jedoch einen anderen Namen für diese grossen Individualisten: Sie werden Klassenverräter oder Streikbrecher genannt.

Kurz gesagt, haben wir hier den Unterschied zwischen dem proletarisch-revolutionären Standpunkt, der auf dem kollektiven Willen der Arbeiterklasse beruht, und dem Standpunkt des kleinbürgerlichen Individualismus.

Ein Rezept für Ohnmacht

Die jüngsten Erfahrungen der Protestbewegung liefern viele Beispiele für die negative Rolle anarchistischer Methoden. Um das konkret zu veranschaulichen, habe ich eine Auswahl von Kommentare von Teilnehmern der Occupy-Bewegung genommen, die ich auf „Reddit“ gefunden habe.

Einer schrieb: „Ich ging zu unserem lokalen Occupy Wall Street-Treffen mit dem Namen ‚Occupy Victoria‘. Dort habe ich schnell gemerkt, dass Anarchisten nicht mal den Weg aus einer Telefonzelle herausfinden würden, selbst wenn ihr Leben davon abhinge.“

Eine andere Person meinte:

„Obwohl die lokale Occupy Wall Street-Gruppe von einem selbsternannten Komitee geleitet wird, funktioniert sie nach dem, was sie als „Konsensbasierte Entscheidungsfindung“ bezeichnen. Wenn eine einzelne Person nicht einverstanden ist, kann sie die gesamte Diskussion zum Scheitern und die Gruppe dazu zu bringen, so lange zu debattieren, debattieren, debattieren, … bis schliesslich alle zustimmen.“ „Mit anderen Worten: Es herrscht die Diktatur des kleinsten gemeinsamen Nenners.“

„Es dauerte anderthalb Stunden, bis wir darüber informiert wurden, was wir am Samstag überhaupt zu tun gedenken. Bis wir mehr zufällig mitbekamen was los war, hatten wir eine endlose Reihe ultralinker leerer Phrasen, „Schweigeminuten, um über unsere Gefühle nachzudenken“, Debatten darüber, ob wir Fotos erlauben sollten oder nicht, Debatten über die Rolle der Polizei, oder ob wir eine Solidaritätsbekundung mit Ureinwohnern unterzeichnen sollten etc. … Es war ein völliges Debakel und eine Zeitverschwendung, und in den 2 Stunden, die wir dort waren, wurde im Wesentlichen nichts getan, ausser dass ein paar Poster verteilt wurden, die wir aufhängen sollten.“

„Die einzige Entscheidung, zu der wir kamen, war, dass wir die Diskussion auf der Website fortsetzen würden.“

Das ist ein sehr typisches Beispiel, wie „Konsenspolitik“ die Protestbewegung lähmt, sie zu blossen Debattierklubs macht und einen davon abhält, auch nur einen einzigen Schritt vorwärts zu machen. Nur weil eine kleine Gruppe nicht zufrieden ist, dreht sich das Treffen im Kreis: „Wir müssen mehr diskutieren! Wir müssen mehr diskutieren!“ Und deshalb machen wir eigentlich nie etwas. Das gleicht einem Menschen, der versucht seinen Durst zu löschen, indem er Salzwasser trinkt.

Eine andere Person machte folgende Beobachtung:

„Ein Problem mit dem Konsens ist, dass abweichende Meinungen übergangen werden. Da jeder zustimmen muss oder zumindest vorgibt zuzustimmen, können abweichende Ansichten nicht immer klar ausgedrückt werden, aus Angst den „Konsens“ zu zerstören. Die Situation endet in einem Zermürbungskrieg. Diejenigen gewinnen, welche bereit sind ihre Position am längsten aufrechtzuhalten. Damit werden notwendigerweise die meisten Menschen vertrieben, die nicht die Zeit oder Lust haben, sich mit dieser Art von Prozess abzufinden.“

„In der Praxis endet der Konsens als Diktatur der Minderheit – manchmal einer einzigen Person – gegenüber der Mehrheit. Es ist völlig undemokratisch und verhindert die organisatorische und politische Entwicklung.“

„Es ermöglicht einer Handvoll Leute, den Prozess zu dominieren. Alle Stimmen können in einer Demokratie gehört werden, aber der Widerspruch einer Minderheit ist kein Argument dafür, die Entscheidung immer weiter aufzuschieben.“

„Wenn ein oder zwei Menschen einen starken prinzipiellen Einwand gegen einen Vorschlag haben, deutet dies auf einen grundsätzlichen Unterschied zum Rest der Gruppe hin, was eher die Frage aufwirft, ob diese Gruppe für sie überhaupt die erste Anlaufstelle sein sollte.“

Frustration

So etwas erzeugt natürlich Frustration unter denjenigen, für die eine Protestbewegung mehr als eine Quatschbude ist. Leider wird diese Erfahrung vielen Teilnehmern der Protestbewegung nur allzu vertraut sein. Hier ist ein weiterer Bericht, diesmal aus Florida:

„Es ist genau dasselbe wie mit Occupy Florida. Der selbsternannte Administrator/Freiwillige, der die Facebook-Gruppe des lokalen Ablegers dieser führungslosen Bewegung leitet, spricht für die gesamte Gruppe. Die Ideologie dieses Diktators ist, dass alles auf das Problem des sogenannten Korporatismus (wie es in der Umgangssprache missbräuchlich genannt wird) zurückzuführen ist. Der Kapitalismus wird nicht einmal als mögliches Grundübel diskutiert.“

„Ich warf ein: „Es ist das System, Dummkopf. Es tut mir leid, aber ich glaube nicht, dass der Kampf gegen den Korporatismus genug ist, wenn …“ Der Diktator antwortet mit: „Nenn mich nicht dumm! Entschuldige dich, bevor du weiterschreibst…“

Diese schreienden Widersprüche werden von ehrlichen Anarchisten erkannt, wie der folgende Kommentar zeigt:

„Ich bin ein Anarchist und ich stimme dir absolut zu. Ich hatte genau die gleiche Erfahrung bei einem lokalen Protest. Wir haben über zwei Stunden lang über die Bildung von Arbeitsgruppen diskutiert, und der Grossteil dieser Diskussion war eine Meta-Diskussion darüber, wie wir die Bildung von Arbeitsgruppen diskutieren sollten. Letztendlich hatte ich keine Zeit mehr und musste gehen, und ich war irgendwie glücklich darüber, denn dieser Organisationsprozess war so schmerzhaft wie Zähne ziehen.“

Ein anderer Reddit-User machte dem Gefühl der Frustrationen, das viele empfinden, Luft:

„Sind alle anarchistischen Gruppen so verdammt nutzlos? Hat irgendjemand eine ähnliche Erfahrung gemacht?“

Der Grundsatz der Demokratie ist das Mehrheitsprinzip. Wie jemand originell bemerkte:

„Wenn sich alle einig sein müssen, sollten wir vermutlich den Slogan zu ‚Wir sind die 100%!‘ ändern!“

Trotz all seinen Begrenzungen ist ein demokratisches System das einzige, das eine echte Beteiligung der Massen ermöglicht. Es muss eine ausführliche und freie Debatte geben, bei der jeder Standpunkt offen ausgesprochen werden kann. Aber wenn es nicht zu einer blossen Gesprächsrunde ausarten soll, muss die Debatte in einer Abstimmung enden, in der die Mehrheit entscheiden und die Minderheit diese Entscheidung akzeptieren muss.

Die Auferlegung eines Konsenses führt unweigerlich zu Untätigkeit, Frustration, Zeitverschwendung und schliesslich zu einem Rückgang der Beteiligung. Viele Menschen, die an den ersten Occupy-Meetings teilgenommen haben, ziehen sich zurück und verlassen die Organisationskomitees, weil sie frustriert sind von den endlosen Debatten und Diskussionen, die nirgendwohin führen.

Die so demokratisch anmutenden Methoden, die ein Höchstmass an Partizipation garantieren sollen, führen letztlich nur dazu, Menschen zu entfremden und die Bewegung zu untergraben. Es braucht eine andere Methode, eine wirklich demokratische Methode, die es jedem erlaubt, frei zu sprechen, aber am Ende des Tages zu klaren Entscheidungen und positiven Aktionen führt.

Selbsternannte Führungscliquen

Der russische Bolschewik Bucharin hat einmal scherzhaft gesagt, dass der Anarchismus zwei Regeln hat: Die erste Regel ist, dass man keine Partei gründen darf; Die zweite Regel ist, dass niemand die erste Regel befolgen muss! Obwohl diese anarchistischen Methoden in der Theorie extrem demokratisch sind, schaffen sie in der Praxis die schlimmste Art von Bürokratie: die Herrschaft selbsternannter Führungscliquen. Der widersprüchliche Charakter dieser Position ist den denkenden Teilen der Anarchisten klar:

„Ich bin Anarchist und stimme der Kritik der Konsensfindung zu. Es ist lähmend, dass jeder in einer grossen Gruppe ein Veto einlegen kann. Massenversammlungen, vor allem ohne eine gut strukturierte Tagesordnung, neigen dazu, weit vom Thema abzuweichen.“

„Ich war bei Aktivistentreffen, die hauptsächlich aus Anarchisten bestanden und bei denen Konsensentscheidungen getroffen wurden. Es gab Probleme, aber die Gruppe bemühte sich sehr, sich dieser Probleme bewusst zu sein und schafften es, dass alle Dinge erledigt wurden. Ich habe aus dieser Erfahrung eine Menge verschiedener Dinge gelernt.“

„Obwohl es offensichtlich keine offiziellen Führer in der Gruppe gab, entstand eine de facto Führung von drei Personen, die die Diskussion und die Entscheidungsfindung dominierten, indem sie einfach älter, erfahrener und selbstbewusster waren. Es gab sogar eine Person (ein weisser Mann, welch Überraschung), der die Gruppe geradezu anführte. Es gab viel Drama darum, und ich war wirklich glücklich, dass Leute bereit waren, die Auswirkungen von Rasse, Klasse und Geschlecht in Bezug auf Entscheidungsfindung und Führung zu diskutieren, aber dennoch brach die Gruppe aufgrund all der Unzufriedenheit zusammen.“

„Das war eine Gruppe von etwa 9 Personen, und selbst diese geringe Anzahl von Menschen hatte es schwer, durch Konsensfindung Entscheidungen zu treffen. Es schien, als würden viele Dinge einfach deshalb durchgewunken, weil die jüngeren, weniger selbstbewussten Mitglieder zu schüchtern waren, um Einwände zu erheben oder eine Entscheidung zu verhindern. Auch hier erkenn ich an, dass sie versuchten, sich dieses Problems bewusst zu werden. Die Probleme bestanden aber immer noch weiter und blieben, abgesehen innerhalb einer kleinen Gruppe von Mitgliedern, oft unausgesprochen.“

Die anarchistischen Methoden der Organisation verwandeln sich stets in ihr Gegenteil. Die Strömung, die sich vorgeblich gegen Führung, Zentralismus und „Bürokratie“ richtet, führt zum bürokratischsten und undemokratischsten System von allen. Das haben wir schon oft gesehen. Hinter der scheinbar demokratischen Anarchie einer formlosen Versammlung ohne Regeln, ohne Struktur und (theoretisch) ohne Führung, trifft immer jemand die Entscheidungen. Aber dieser „Jemand“ wird von niemandem gewählt – „Wahlen? Mit Stimmenmehrheit? Gott bewahre!“ – und ist daher niemandem gegenüber verantwortlich.

Hinter den Kulissen werden diese „unbürokratischen“ Einrichtungen von selbsternannten Führungscliquen von Individuen (oft Anarchisten) betrieben. Dies ist in der Praxis die schlimmste Form der Bürokratie – eine Bürokratie, die niemandem verantwortlich ist und genau das tun kann, was sie will, weil es keine formale demokratische Kontrollmethode gibt.

Alan Woods, IMT
2012