Die Krise des Kapitalismus breitet sich auch in der Schweiz aus. Die Exportindustrie ist das erste Opfer. Massenentlassungen häufen sich. Wir sprachen mit den betroffenen Arbeitern einer Fabrik im Emmental. Auch dort bezahlt die Arbeiterklasse die Krise – und die Profite der Bosse!

Mitte Oktober stehen wir um 6 Uhr morgens auf einem dunklen Parkplatz in Huttwil im Emmental. Wir sind fünf Mitglieder von unserer Funke-Ortsgruppe in Bern. In der Hand haben wir unsere rote Zeitung. Sie identifiziert uns (auch im Dunkeln) als solidarische Kommunisten.

Wir reden mit den Arbeitern der Flyer-Fabrik über die aktuelle Massenentlassung

Der erste Arbeiter, den wir noch zögerlich ansprechen, wird sofort laut. Nicht uns gegenüber, sondern gegenüber der Zustände in der Firma. Er gebraucht grobe Ausdrücke, zu uns ist er aber freundlich. Er gehöre zwar nicht zu den 80 Entlassenen, aber keinen einzigen Tag länger wolle er hier arbeiten! Er verschwindet hinter der Schiebetür – nicht ohne uns noch zu erklären, wo wir am besten hinstehen müssen, um alle ankommenden Kollegen abzufangen.

Wegen der Krise im E-Bike-Business wurden bei Flyer 80 der 300 Angestellten entlassen. Damit sind sie nicht die Einzigen: Solche Massenentlassungen gehören zur neuen Normalität. Der Einbruch der Krise verändert das Bewusstsein der Arbeiterklasse grundlegend. Um zu verstehen, was so ein Ereignis mit den betroffenen Arbeitern macht, was sie darüber denken und was es braucht, damit sie sich wehren, entschied sich meine Ortsgruppe, einer betroffenen Firma einen solidarischen Besuch abzustatten.

Entlassungen im Emmental
Im Oktober entliessen gleich mehrere Betriebe im Grossraum Bern einen Grossteil der Angestellten. Wir entschieden uns für die Flyerfabrik im ländlichen Emmental. Dort produzieren 300 Arbeiter und Arbeiterinnen täglich E-Bikes. Nicht irgendwelche Göppel, sondern Luxus-E-bikes, welche zwischen drei und neun tausend Franken kosten. Ende September erhielten 80 ihre Kündigung. Ihr Schicksal widerspiegelt den normalen, rücksichtslosen Kapitalismus: Aufschwung und Krise sind der normale Zyklus des Marktes.

Der zweite Arbeiter, der eintrifft, spricht kaum deutsch. Gestikulierend erklärt er, dass er Kurde sei und mit Marx (Abbildung auf unserer Zeitung) völlig einverstanden sei. Auch die nächsten Ankömmlinge sind extrem offen. Sie sind froh, dass endlich jemand zuhört.

Das härteste sei der Abschied, mit seinen Kollegen in der Produktion verbringe er schliesslich mehr Zeit als mit seiner eigenen Familie, teilt der Arbeiter mit. Gute Freunde seien jetzt plötzlich weg. Offensichtlich wurden zahlreiche gestandene Mitarbeiter entlassen: «weil die halt teuer sind». Einer von ihnen erzählt uns, dass er die Entlassung nach 12 Jahren Dienst im Betrieb erhalten hat, mit wohlgemerkt 65.. Zurück auf die Baustelle sei keine Option, was jetzt komme wisse er nicht.

Der nächste erklärt, dass das Überleben dieser Runde der Entlassungen noch nicht das Ende bedeute. «Schau dir diese riesige Fabrik an. Solange wir auf all den Bikes sitzen und nur eine Produktionslinie offen ist, überlebt diese Fabrik nicht». Er erwartet die nächste Entlassungsrunde im März.

Flyer: Ein Opfer der Konjuntur
Während den Coronajahren explodierte der E-Bikemarkt. 2020 verkaufte die Firma Flyer ein Dreifaches an Bikes! 2021 öffnete eine neue Produktionslinie, dank der 100’000 Velos pro Jahr produziert werden konnten. Damit das möglich war, machten die Arbeiter bis zu 300 Überstunden.

Heute sieht die Situation anders aus. Der wichtigste Absatzmarkt – Deutschland – ist völlig zusammengebrochen. Durch Inflation und Krise verzichten dort viele auf solch ein Luxusbike. Über 30’000 unverkaufte Zweiräder stapeln sich bei Flyer und den Händlern, erklärt uns ein Arbeiter.

Das Management zog die Notbremse und entliess fast ein Drittel der Belegschaft. Da die Produktionslinien stillstehen, wurde die Mehrheit davon direkt freigestellt und sitzt nun untätig zu Hause. Nicht einmal eine richtige Verabschiedung gab es.

… aber kein Einzelfall
Die Konsequenzen der Krise prägen den Alltag hunderttausender Arbeiter in Schweizer Betrieben. Die Schweiz ist eine Industrienation. Das verarbeitende Gewerbe, also die Produktion von Waren, insbesondere für den Export, ist das wichtigste Standbein der Wirtschaft.

Dieser Sektor wird heute von zwei miteinander verbundenen Problemen heimgesucht: Erstens herrscht eine Weltwirtschaftskrise: die Mehrheit der bedeutendsten Exportmärkte (China, die EU und Deutschland) stecken in der Krise.

Und zweitens beendet der aufziehende Protektionismus die Stabilität der Schweizer Wirtschaft. Diese basierte bisher darauf, dass kriselnde Absatzmärkte von wachsenden Märkten kompensiert werden konnten. Das ist durch den Protektionismus weniger der Fall oder wird teurer.

Diese kombinierte Krise führt bereits zum akuten Ausbruch der Krise in der Exportwirtschaft. Der KOF Geschäftslageindikator repräsentiert die Einschätzung der Industriebosse: Im Verarbeitenden Gewerbe ist dieser innerhalb eines Jahres von 17.6 Punkten, im Oktober 2022, auf aktuell -19.9 Punkte zusammengekracht. Eine Stabilisierung ist nicht in Sicht, denn die Auftragsbestände schrumpfen bereits den zehnten Monat in Folge!

Wer bezahlt für die Krise ?
Ein Angestellter aus dem Einkauf – im weissem Hemd – erklärt, dass ein Grossteil der Unternehmensführung von Flyer nicht auf den Bonus verzichtet. Das mache viele wütend. Überstunden leisten und als Dank die Entlassung für die einen, Bonus für die anderen. «So funktioniert der freie Markt», konstatierte ein junger Produktionsmitarbeiter mit griechischem Akzent.

Die Kapitalisten sind gezwungen die Krise auf die Arbeiterklasse abzuladen,deshalb schwappt seit Jahresbeginn eine Welle an Massenentlassungen durch die Schweizer Wirtschaft. In der Industrie verlieren hunderte Arbeiter ihren Job und gleichzeitig werden «Effizienzsteigerungsprogramme» durchgeführt. Das bedeutet, die Ausbeutungsrate für jene, die bleiben, wird erhöht.

Das beweist eindrücklich: Die Schweiz ist keine Insel. Die allgemeine Krise des Kapitalismus sucht nun auch die Schweiz heim. Diese Situation wird sich auch nicht mehr beruhigen. Die Konkurrenz und die Ausbeutung werden härter.

Das wird das Bewusstsein der Arbeiterklasse grundsätzlich verändern. Der Druck am Arbeitsplatz war in der Schweiz schon immer hoch, doch in den letzten 10-15 Jahren hat er nochmals überall zugenommen. Solange der Lohn akzeptabel war, wurde das toleriert, doch mit der allgemeinen Krise, der Inflation, den Krankenkassenprämien, den Energiepreisen etc. ist dies nicht mehr länger der Fall.

Dazu kommt die kapitalistische Absurdität der Angst vor dem Jobverlust während gleichzeitig bestehendem Fachkräftemangel. Irgendwann wird die Situation unhaltbar. Auch in der Schweiz wird es früher oder später zu Kämpfen, Streiks und Protesten kommen. Die gleichen Bedingungen führen zu den gleichen Resultaten. Wie in Grossbritannien und Frankreich werden die Arbeiter realisieren: ihre Lebensbedingungen müssen im Kampf verteidigt werden.

Dass heute nur selten gekämpft wird, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Veränderung in den Bedingungen bereits heute das Bewusstsein der Arbeiterklasse verändert. Bei plötzlichen Veränderungen – wie einer Massenentlassung – noch viel mehr.

Ein Kommunist würde den Unterschied machen
Bei Flyer hat sich niemand an der gesetzlichen Konsultationsfrist beteiligt. Flyer konnte die Entlassungen widerstandslos durchsetzen. Die Arbeiter erklären, dass sie ausser einer Beratung bei der Jobsuche nichts bekommen hätten. Eine Vollversammlung aller Angestellten gab es nie.

Die zahlreichen Diskussionen mit den Arbeitern von Flyer haben uns das krasse Vakuum aufgezeigt. Die riesige Wut und Enttäuschung hat keinen organisatorischen Ausdruck gefunden. Die Massenentlassung musste widerstandslos ertragen werden. Doch wir trafen auf einen grossen Durst nach politischer Diskussion. Zwei Arbeiter wollten mit uns in Kontakt bleiben. Wieso haben sie nicht gekämpft?

  • Funke: «Wieso gab es keine Vollversammlung?»
  • Arbeiter: «Weil es niemand organisiert hat…»
  • F: «Aber denkst du, die Leute hätten gekämpft?»
  • A: «Ja, wenn es jemand in die Hand genommen hätte, dann sicher.»
  • F: «Wieso hast du das nicht getan?»
  • A: «Ich hatte Angst. Wir alle hatten Angst».

Uns hat sich eindrücklich gezeigt: Mut ist eine politische Frage. Ein organisierter Kommunist hätte die Situation um 180 Grad verändert! Mit einer kommunistischen Organisation im Rücken hätte auch ein einzelner Arbeiter die politische Klarheit gehabt, wie man den Kampf ins Rollen bringt. Nämlich mit einer Vollversammlung.

Und er hätte den Mut gehabt, diese Schritte loszutreten. Das hat bei Flyer schmerzhaft gefehlt. Und das fehlt bei vielen anderen Massenentlassungen. Unser Ziel ist es, in jedem grösseren Betrieb einen Kommunisten zu haben, denn das wird den Klassenkampf auf ein neues Niveau heben!