«Der Kommunismus hat sein wahres Gesicht gezeigt in der Praxis; Kommunismus, das heisst stalinistische Diktatur!» Kommunisten werden unweigerlich mit diesem oder ähnlichen Sätzen konfrontiert. Wir müssen verstehen, was Stalinismus ist.

Die Oktoberrevolution 1917 ist das grösste Ereignis in der Weltgeschichte.

Nach Jahrtausenden von Unterdrückung und Ausbeutung übernahmen die Unterdrückten und Werktätigen die Macht, angeführt von der bolschewistischen Partei rund um Lenin und Trotzki. Sie enteigneten die Ausbeuter und begannen mit dem sozialistischen Umbau der Gesellschaft. Wir sagen: Die Oktoberrevolution, der Bolschewismus, das zeigt uns den Weg zum Kommunismus!

Aber die Bourgeoisie zeigt in der Presse, in den Schulbücher und an den Universitäten, überall, mit dem Finger auf Stalins Arbeitslager, auf die (willkürlich zusammengerechneten) «hundert Millionen Toten» und schreit hysterisch: «Ihr wollt Kommunismus? Da habt ihr euren Kommunismus!».

Kann es nicht sein, dass die Revolution tatsächlich in einer bürokratisch-totalitären Karikatur des Sozialismus münden muss, wie es in der UdSSR passiert ist? Kann es nicht sein, dass sie Recht haben?

Diese Skepsis hemmt auf Schritt und Tritt. Kommunisten müssten mit absoluter Bestimmtheit an die grosse Aufgabe der kommunistischen Revolution herangehen. Wir können nicht mit angezogener Handbremse kämpfen. Die Verzerrungen der Bourgeoisie müssen entlarvt werden.

Überlegenheit der Planwirtschaft

Wenn die Bourgeoisie die Sowjetunion in den Dreck zieht, dann geht es ihr nicht darum, dass Stalins Regime repressiv und totalitär war. Sie haben keine Mühe, heute Netanjahu den Rücken freizuhalten für seine ethnische Säuberung der Palästinenser. Diese Heuchler unterstützen jedes noch so «totalitäre» Regime, solange es ihren Interessen entspricht.

Sie verunglimpfen die UdSSR nicht wegen Stalins Verbrechen, sondern wegen der einzigen Errungenschaft aus der Oktoberrevolution, die Stalin nicht liquidiert hat. Sie hassen die Sowjetunion nicht wegen dem, was an ihr schlecht war, sondern wegen dem, was an ihr progressiv war. Die Oktoberrevolution hat die Kapitalisten enteignet; die UdSSR basierte 70 Jahre lang auf dem Staatseigentum an den Produktionsmitteln.

Die Errungenschaften der Planwirtschaft sind gigantisch. Russland vor 1917 war das «Land des Holzpflugs». Es war rückständiger als beinahe jedes Land heute. Es war die Planwirtschaft, die das Land aus der Barbarei geholt hat, nicht der Kapitalismus. In den ersten 50 Jahren vervielfachte sich der industrielle Output um den Faktor 50; in den USA um den Faktor sechs.

Die UdSSR wurde in wenigen Jahrzehnten zur zweitstärksten Industriemacht auf der Welt. Diese Entwicklung stellt die schnellste Entwicklung der Produktivkräfte dar, die die Geschichte je gesehen hat. Diese Entwicklungen in den ersten 50 Jahren passierten praktisch ohne Arbeitslosigkeit und ohne Inflation. Währenddessen ging die kapitalistische Welt durch die Grosse Depression, in der die Industrieproduktion in den USA um die Hälfte zusammengebrochen ist; teilweise waren fast 30 Mio. arbeitslos.

Bis in die 1940er lebte die Mehrheit in Russland in rückständigen ländlichen Verhältnissen. Die Arbeiterklasse war winzig. Die UdSSR erschuf nicht nur die grösste, sondern auch die gebildetste Arbeiterklasse der Welt. Vor der Oktoberrevolution konnten 70 % weder lesen noch schreiben. Der Analphabetismus wurde beseitigt. 1970 hatte die UdSSR fünf mal mehr Ingenieur-Absolventen als die USA. Die Lebenserwartung der Frau hat sich verdoppelt in wenigen Jahrzehnten.

Die Herrschenden wollen vertuschen, was diese Tatsachen eindeutig beweisen – die Überlegenheit der Planwirtschaft gegenüber der kapitalistischen Marktwirtschaft. Sie haben Angst davor, dass eine neue revolutionäre Generation davon inspiriert wird.

Der junge revolutionäre Staat, den die Oktoberrevolution errichtete, fusste nicht nur auf dem Staatseigentum, sondern begann als eine lebendige Arbeiterdemokratie. Die demokratischen Debatten in den ersten Jahren, zu finden in den Kongressbüchern der Kommunistischen Partei und der Dritten Internationale, beweisen den demokratischen Charakter des jungen Arbeiterstaats.

Die Arbeiterdemokratie unter Lenin hatte nichts gemein mit Stalins totalitärem Regime. Warum ist aus einem gesunden demokratischen ein bürokratisch deformierter Arbeiterstaat geworden?

Degeneration der Oktoberrevolution

Die Kette des globalen Kapitalismus ist 1917 am schwächsten Glied gerissen, in Russland. Für die Bolschewiki rund um Lenin und Trotzki war immer klar, dass das Schicksal der Oktoberrevolution an die Ausbreitung der Revolution gekettet ist. Bleibt Russland isoliert, wird die Revolution scheitern.

«Wenn man den Welthistorischen Massstab anlegt, so kann kein Zweifel daran bestehen, dass der Endsieg unserer Revolution eine hoffnungslose Sache wäre, wenn sie alleine bliebe, wenn es in anderen Ländern keine revolutionäre Bewegung gäbe. (…) Unsere Rettung aus all diesen Schwierigkeiten ist, wie gesagt, die Revolution in ganz Europa.»

Lenin, 1918, Werke Bd. 27, S. 81.

Denn der Aufbau des Sozialismus ist eine materielle Frage. Eine sozialistische Gesellschaft – eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung – kann niemals auf der Grundlage von Mangel aufgebaut werden.

Der Sozialismus beginnt, wo der Kapitalismus endet: Er muss auf der Basis der höchsten Errungenschaften des Kapitalismus aufgebaut werden. Der Kapitalismus hat die Produktion vergesellschaftet, eine internationale Arbeitsteilung und globale Produktionsketten erschaffen.

Kurz: Die Produktivkräfte des Kapitalismus haben internationalen Charakter. Darum kann die sozialistische Revolution nur als Weltrevolution erfolgreich sein.

Die Russische Revolution löste eine revolutionäre Welle in ganz Europa aus. Lenin und Trotzki haben alles getan, um die Weltrevolution zum Sieg zu führen. Unter den härtesten Umständen nach der Oktoberrevolution bauten sie die Kommunistische Internationale auf.

Aber die Revolutionen in den umliegenden Ländern (die Revolutionen in Italien, Österreich, Ungarn, Finnland, Deutschland usw.) scheiterten allesamt. Die Kette riss am schwächsten Glied, aber das schwächste Glied blieb isoliert und wurde noch zusätzlich geschwächt durch den Bürgerkrieg. Die besten Arbeiter fielen im Bürgerkrieg. Müdigkeit machte sich breit. Die Sowjetdemokratie begann zusammenzubrechen. Alte zaristische Bürokraten und bürgerliche Elemente drangen in Machtposten vor.

1923 scheiterte die Deutsche Revolution. Mit ihr endete die ganze revolutionäre Flut nach dem Ersten Weltkrieg. Das war der entscheidende Schlag für die russische Arbeiterklasse. Apathie, Demoralisierung und Erschöpfung machten sich endgültig breit. Auf dieser Welle des Pessimismus verdrängte die Bürokratie in Staat und Partei die Arbeiter und nahm die Macht in ihre Hände.

Eine Analogie aus Trotzkis Meisterwerk «Die Verratene Revolution» veranschaulicht die tiefer liegenden materiellen Triebkräfte in diesem komplexen historischen Prozess. Wenn es in einem Laden zu wenig Produkte hat für alle Leute, die etwas kaufen wollen, dann bildet sich eine Schlange und staut sich Unmut an. Es braucht jemanden, der entscheidet, wie die wenigen Sachen verteilt werden; mit einer Pistole in der Hand, um seine Entscheidung durchzusetzen. Dieser Bürokrat wird zehn Leuten weniger geben, um sich selbst mehr als genug zu geben. Dieser Bürokrat kann keine Demokratie zulassen. Denn was ist das erste, das die Arbeiter fragen würden? «Wer bist du, dass du die Pistole hast; dass du verteilst; und dass du mehr bekommst?». Die Bürokratie muss ein totalitäres Regime errichten.

Stalinismus

Stalin war der Kopf der Bürokratie. Aber er hatte weder einen bewussten Plan noch war er die Triebkraft der Degenerierung der Revolution. Die erstarkte Bürokratie brauchte einen Mann, der das totalitäre Regime mit voller Härte anführt und ihre Privilegien als parasitäre Kaste sichert. Stalin – mit der Autorität eines alten Bolschewik, seiner Unbarmherzigkeit, Rücksichtslosigkeit und Prinzipienlosigkeit – war ihr Mann. Sie gab ihm das Zepter in die Hand.

Lenins Prinzip war die Weltrevolution. Das Kriterium der Bürokratie und des Stalinismus hingegen waren die Herrschaft und die Privilegien der Bürokratie – im Gegensatz zur Weltrevolution.

Je mehr sich die Bürokratie und der Stalinismus konsolidierten, desto klarer wurde, dass ihre Herrschaft den vollständigen Bruch mit der Weltrevolution und den Traditionen der Oktoberrevolution bedeutete. Die Bürokratie fürchtete immer mehr die Revolution in anderen Ländern. Jede erfolgreiche Revolution im Ausland wäre wie ein elektrischer Schlag durch die Sowjetmassen gefahren und hätte die Herrschaft der parasitären Bürokratie gefährdet. Die Spanische Revolution 1936/7 wurde von Stalin bewusst sabotiert. Stalin wurde zum konterrevolutionären Henker revolutionärer Bewegungen.

Nichts war gefährlicher für die parasitäre Bürokratie als die revolutionären Ideen von Lenin. Bereits seit 1924 nach Lenins Tod unterdrückte Stalin die wirklichen Leninisten rund um Trotzki. Schliesslich versuchte Stalin, alle Erinnerungen an die Oktoberrevolution physisch zu zerschlagen. Stalin vernichtete alle alten Mitkämpfer von Lenin. Niemand vom Zentralkomitee der Oktoberrevolution überlebte, ausser Kollontai und Stalin selbst.

Die Bourgeoisie zieht eine gerade Linie vom Bolschewismus zum Stalinismus. In Wahrheit ist der Stalinismus die Antithese zum Leninismus und Bolschewismus. Die Linie aus Blut, die Stalin zwischen sich und den genuinen Traditionen des Bolschewismus zog, beweist das eindeutig.

Planwirtschaft vs. Bürokratismus

Stalin zerschlug die Arbeiterdemokratie, aber die Planwirtschaft blieb erhalten. Aber eine ganze Volkswirtschaft kann nicht bürokratisch «von oben herab» geplant und geleitet werden. Eine Planwirtschaft braucht bewusste Kontrolle, Feedback und Mitbestimmung aus den Betrieben und Quartieren. Sie braucht die Arbeiterdemokratie wie ein Mensch die Luft zum Atmen.

Die Sowjetbürokratie war ein Krebsgeschwür am Organismus der Planwirtschaft, das die Entwicklung des Organismus von Anfang an hemmte. Alle ökonomischen Errungenschaften wurden nicht dank dem Stalinismus und Bürokratismus erreicht, sondern trotz ihm.

Trotzki hatte schon in den 30ern die historischen Möglichkeiten der Entwicklung gesehen. Entweder das Krebsgeschwür wird entfernt, oder es zerstört den Organismus; entweder stürzt die Arbeiterklasse die Bürokratie und installiert eine Arbeiterdemokratie, oder die Sowjetbürokratie zerstört die Planwirtschaft und geht den Weg der kapitalistischen Konterrevolution.

Trotzki kämpfte für den Weg vorwärts zum Sozialismus (für den Sturz der Bürokratie, für die Arbeiterdemokratie) und hat gleichzeitig die UdSSR bedingungslos gegen die kapitalistische Konterrevolution verteidigt. Denn wer Errungenschaften nicht verteidigen kann, wird nie in die Offensive für den genuinen Kommunismus gehen können.

Der tiefe Widerspruch der Sowjetunion – Planwirtschaft, aber Absenz von Arbeiterdemokratie – verschärfte sich mit der Entwicklung der Planwirtschaft.

Die erste Phase der industriellen Entwicklung bestand darin, die Errungenschaften in der Schwerindustrie aus dem Westen zu kopieren. Die Stahlindustrie konnte z.B. relativ gut mit bürokratischen Kommandomethoden aufgebaut werden.

Die Bürokratie war ein relatives Hemmnis. Je mehr es aber darum ging, eine komplexe Volkswirtschaft aufzubauen, desto mehr wurden die bürokratischen Formen der Leitung der Wirtschaft zu einer absoluten Bremse, bis schliesslich Ende der 80er das Wirtschaftswachstum auf Null fiel. Das besiegelte das Schicksal der UdSSR.

Der Kampf der lebendigen Kräfte bestimmte den Ausgang der Geschichte. Die Konterrevolution siegte. Die Zerschlagung der Planwirtschaft durch die kapitalistische Konterrevolution bedeutete eine soziale und ökonomische Katastrophe. Prostitution, Arbeitslosigkeit, Drogen, Religion – alle die kapitalistischen Wohltaten kam zurück.

Was sind die Lektionen?

Die Bürgerlichen – und in ihrem Schlepptau die Reformisten und Anarchisten – sehen den Stalinismus als direktes Resultat des Bolschewismus. In Wahrheit ist das Gegenteil der Fall. Wir haben gesehen, dass die bürokratische Degeneration ein Produkt der Isolation der Revolution in einem rückständigen Land ist.

Die Isolation ist ihrerseits darauf zurückzuführen, dass die Revolutionen in Deutschland 1918-1923, in Italien 1919-1920, in China 1925, in Spanien in den 30ern, die Revolutionen nach dem Zweiten Weltkrieg, die Versuche von politischen Revolutionen in den 50ern in Ungarn, in Ostdeutschland usw. allesamt scheiterten. Das Problem liegt nicht darin, dass die Bolschewiki 1917 im Oktober die Macht übernahmen; die entscheidende Frage ist, warum die Revolutionen in den anderen Ländern scheiterten.

Die Antwort ist, dass es nur in Russland eine bolschewistische Partei gab, die fähig war, die Arbeiterklasse an die Macht zu führen; die Revolutionen in Deutschland usw. scheiterten, weil es in diesen Ländern keine bolschewistische Führung gab. Wir brauchen nicht weniger Bolschewismus und weniger Leninismus, sondern mehr davon. Wir brauchen eine bolschewistische Internationale!

Es ist heute, technologisch gesehen, eine total bescheidene Perspektive, alle Menschen mit dem Nötigsten zu versorgen und den Arbeitstag auf einen kleinen Teil zu verkürzen. Die Arbeiterklasse ist heute so stark wie noch nie in der Geschichte. Sie stellt die erdrückende Mehrheit der Weltbevölkerung dar. Sie ist in allen Ländern am Erwachen. Eine Schicht von Arbeitern und Jugendlichen zieht bereits kommunistische Schlussfolgerungen.

Der Stalinismus und die Bürgerlichen haben versucht, den Faden der bolschewistischen Tradition mit roher Gewalt und ideologischer Verzerrung zu durchschneiden. Leo Trotzki hat es geschafft, diesen Faden zu erhalten, und Ted Grant, der Gründervater der International Marxist Tendency, hat diese Arbeit weitergeführt. Dank diesen Giganten wurden die revolutionären Traditionen der Oktoberrevolution in der IMT konserviert.

Die historische Aufgabe besteht heute darin, die fortgeschrittenste Schicht von Kommunisten in allen Ländern zu organisieren und in Lenins Ideen der kommunistischen Weltrevolution auszubilden und auf diese Weise so schnell wie möglich das feste internationale Rückgrat einer künftigen kommunistischen Massenkraft zu erschaffen. Das machen wir von der International Marxist Tendency mit vollem Tatendrang. Die Bedingungen für eine genuin kommunistische Weltrevolution waren nie günstiger als heute.